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Ohwe, da läuft was schief.

Die Schweiz hat eine bestens funktionierende Gewaltenteilung. Die 3 Gewalten - legislative, exekutive sowie die judikative - können sich gegenseitig nichts bestimmen. Der Bundesrat entscheidet nicht über einen Gerichtsentscheid, das Parlament nicht über eine Umsetzung eines Gesetzes, und das Gericht entwirft dieses nicht.

Logisch? Eigentlich schon.

In der Schweiz, und allen zivilisierten Gesellschaften, hat jeder Mensch, egal ob gross oder klein, jung oder alt, schwarz oder weiss, das gleiche Recht auf einen Gerichtsentscheid. Jeder kann diesen Entscheid sogar weiterziehen bis zum nächst höheren Gericht, und falls das höchste Gericht der Schweiz, das Bundesgericht, immer noch einen Schuldspruch fällt, besteht die Möglichkeit noch weiter zu gehen. Zum Beispiel an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassbourg.

Schweizerisches Bundesgericht in Lausanne

Doch was ist, wenn diese Justiz ausgehebelt wird? Wenn Urteile weder fair noch berechtigt gefällt werden? Und nicht einmal von Richtern, sondern von Privatpersonen?
Wenn Vorwürfe gleich zu Karrierekiller werden?

 

Es ist anfangs Oktober, die New York Times berichtet über sexuelle Belästigungen von Harvey Weinstein gegenüber etlichen jungen Frauen. Weinstein, ein erfolgreicher und einflussreicher Filmproduzent (The Weinstein Company) nutzte offenbar seine Machtposition aus, um Schauspielerinnen und Mitarbeiterinnen zu nötigen.

Harvey Weinstein zusammen mit Steven Gätjen am Zurich Film Festival 2013.

Ein Schock ging durch die Hollywood-Welt. Seine eigene Firma trennte sich von Weinstein, die Academy of Motion Pictures Arts and Sciences, die die Oscars vergibt, sowie weitere Berufsverbände, schlossen Weinstein umgehend aus ihren Reihen aus.
Auf den sozialen Netzwerken entwickelte sich unterdessen eine riesige Kampagne gegen sexuelle Übergriffe auf Frauen. Unter dem Hashtag #metoo veröffentlichten immer mehr Frauen ihre Erlebnisse im Zusammenhang mit sexueller Belästigung. Auch weitere Frauen, mittlerweile über 70 an der Zahl, schuldigten Harvey Weinstein an, sie sexuell belästigt oder genötigt zu haben. Darunter auch bekannte Schauspielerinnen wie Angelina Jolie und Léa Seydoux. 

Ermutigt durch die Veröffentlichungen der Berufskolleginnen, ergriff Anthony Rapp, bekannt durch seine Rolle bei "Star Trek Discovery", in einem Interview mit Buzzfeed das Wort. Er beschuldigt Kevin Spacey, bekannt als Francis Underwood aus "House of Cards", ebenfalls der sexuellen Belästigung.
Spacey, damals 26 Jahre alt, soll den 14-jährigen Rapp im betrunkenen Zustand auf sein Bett gelegt haben und versucht haben ihn auszuziehen. Kevin Spacey entschuldigte sich nach Veröffentlichung des Artikels via Twitter bei Anthony Rapp für sein Verhalten, auch wenn er sich nicht an diesen Abend erinnern könne. Im gleichen Statement wollte Spacey reinen Tisch machen und outete sich als Homosexuell. Von seinen Schauspielkollegen und LGBT-Organisationen wurde diese Verknüpfung des Outings an die Entschuldigung scharf kritisiert uns als "schlechte PR" betitelt.

Kevin Spacey im September 2017 beim Unternehmensgründer- und Investorentreffen Bits&Pretzels in München.

Für Spacey entwickelten sich die nächsten Tagen nach dem Bekanntwerden ähnlich wie bei Harvey Weinstein. Netflix, der Produzent hinter "House of Cards" (HoC), distanzierte sich von Kevin Spacey und kündigte an, interne Untersuchungen durchzuführen. Als weitere Männer, darunter auch Mitarbeiter vom "HoC"-Set, Spacey anschuldigten, stoppte Netflix die aktuell laufenden Produktionen für die kommende 6. Staffel der Serie.
Mittlerweile wurden alle Verbindungen zwischen dem Streamingdienst und Kevin Spacey gekappt, seine persönliche Sprecherin suchte das Weite und Scotland Yard ermittelt wegen sexueller Belästigung am Old Vic Theater in London, das Spacey von 2004 bis 2015 leitete. 

Neben Schauspieler gerieten aber auch Politiker in das Kreuzfeuer von Veröffentlichungen durch belästigte Frauen. 
Der Spitzenpolitiker und Mitbegründer der Grünen Partei in Österreich, Peter Pilz, kündigte letzte Woche an, dass er seinen Sitz im frischgewählten Parlament nicht antreten wird. Hintergrund dafür ist eine Anschuldigung einer Abgeordneten der Europäischen Volkspartei, die Pilz bei einem Forum im Jahr 2013 massiv sexuell belästigt haben soll.

Diese Anschuldigungen haben in der heutigen Zeit eine immense Wirkung und eine Reichweite, die unvorstellbar ist. Über den Kurznachrichtendienst Twitter werden Meldungen, Reaktionen und emotionale Tweets innert Sekunden auf Tausende von Menschen verteilt.

Das Fehlverhalten oder gar die Folgen für die Betroffenen will ich nicht schönreden. Diese Verhalten ist sowohl gegenüber Frauen wie auch Männer absolut inakzeptabel und soll, respektive muss, bestraft werden.
Aber eben: Von wem?

Diese Berichte sind alle Anschuldigungen gegenüber den oben genannten Männer. Weder wurden diese Aussagen bei der Polizei noch bei einem Gericht gemacht, die Beschuldigten wurden weder angehört, noch wurde ein gerichtliches Urteil gefällt. 

Wie sollen wir damit umgehen, dass wir als Masse so viel Macht erhalten? Dass Menschen ihren Job, ihre Karriere verlieren, weil ein wütender Mob über das Internet jede funktionierende Justiz aushebelt und Menschen, ohne die gesamte Geschichte je gehört zu haben, verurteilt?
Wie gehen wir mit den "Gerüchtsurteilen" um, wie der österreichische Kurier titelte?

Diese Männer sind gesellschaftlichen Urteilen ausgeliefert, obwohl ihre Schuld nicht bewiesen ist. Ihre Arbeitgeber wenden sich gegen sie, entweder um ein Zeichen zu setzen  oder um ihr Gesicht und ihre Einnahmen zu wahren. Produktionen werden abgesetzt oder in letzter Sekunde umgeschnitten um das nun in Abscheu geratene Gesicht nicht auf der Kinoleinwand zu haben. 

Und wie gehen wir persönlich mit dieser Situation um? Dürfen wir nun trotzdem die neuste Staffel "House of Cards" sehen oder gilt das als unmoralisch? Müssen wir ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir immer noch die Grünen wählen oder "The King's Speech" einen total berührenden Film finden?

Nein. Im Gegensatz sollten wir uns Zeit nehmen um genau über diese Moral nachzudenken, uns diese Urteile, die auch ich und du fällen, durch den Kopf gehen lassen und Distanz einnehmen.

Eine gute Serie oder einen Film zeichnen sich durch die schauspielerische Leistung der Darsteller, des Können des Regisseurs und Kameramann und der Kreativität der Autoren aus. Nicht durch das Verhalten der Schauspieler als Privatpersonen.

Urteile werden nicht via Twitter gesprochen, sondern durch einen Prozess mit Anhörung beider Parteien. Egal um welches Delikt es sich handelt.
Egal ob trockene Themen wie Steuerhinterziehung oder emotionale wie Sexualdelikte.

 


©rethink-blog 2017