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Gender Data Gap

Warum von Toiletten bis hin zu Smartphones alles auf Männer angepasst ist und warum dies für Nicht-Männer gefährlich werden kann.

Dieser Text erschien am 7. Juli 2019 das erste Mal bei rethink.


3 Wochen nach dem historischen Frauenstreik in der Schweiz mit über 200’000 Teilnehmerinnen müssen wir hier nicht mehr darüber diskutieren, dass Frauen im Beruf und auch Zuhause noch immer nicht gleichgestellt sind, weniger Lohn erhalten, aber dabei mehr unbezahlte Arbeiten, wie Haushalt, Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen tätigen. Wir können aber mal darüber reden, dass in vielen Punkten die Bedürfnisse von Frauen schlicht nicht eingeplant werden:

Ob am Bahnhof, in der Bar oder an einem Event: Frauen stehen vor den Toiletten Schlange. Klar, die quatschen ja auch ewig und müssen ihr Make-up auffrischen. Aber so einfach lässt sich die Schuld nicht den Benutzerinnen in die Schuhe schieben. Schuld an dieser Überlastung sind nämlich die Designer, und diese sind häufig dem männlichen Geschlecht zuzuordnen. Wissenschaftlerinnen nennen dieses Problem den “Gender data gap” oder auch “Gender data bias”, was so viel heisst, wie Lücke oder Verzerrung in geschlechterspezifischen Daten. Denn diese Verzerrung ist der Grund, wieso Männer zum Wasserlassen nicht anstehen müssen, besser ihr Smartphone bedienen können oder sogar seltener an einem Herzinfarkt sterben. Die Wissenschaft beginnt aber gerade erst, sich mit dem Gender Data Gap zu befassen. Das Problem:

Wenn etwas entwickelt wird, etwa eine Maschine, ein Gesetz, ein Medikament oder ein Produkt, werden zuerst Daten gesammelt. Dabei werden Frauen entweder gar nicht oder nicht genügend berücksichtigt. Dina Pomeranz, Professorin für Entwicklungsökonomie an der Universität Zürich, erklärt im Interview mit “Nouvo” von Schweizer Radio und Fernsehen (SRF): “Man dachte einfach, der Mann ist der Normalfall und die Frau die Ausnahme. Und wenn die Frau kompliziert ist, weil sie einen hormonellen Zyklus hat oder wenn ihre Teilnahme am Arbeitsmarkt durch Kinder unterbrochen wird, dann war das eine Komplikation und sie wurde ignoriert.”
Und wenn Daten von Frauen erhoben werden, dann werden die nicht gesondert ausgewertet, sondern einen Durchschnitt aller Frauen und Männer genommen.

Wenn die Welt von Männer für Männer designt wird, gehen Frauen oft vergessen.

Und das führt nun dazu, dass vor der Frauentoilette eine längere Schlange entsteht. Denn Frauen brauchen tatsächlich länger beim Toilettengang. Rund 2.3 mal länger als Männer. Dies aus guten Gründen: Sie müssen sich ausziehen, hinsetzen, haben einmal pro Monat die Tage und häufiger ein Kleinkind dabei, das versorgt werden will. Diese Punkte wurden bei der Planung von Toiletten nicht einberechnet, aber zum Beispiel auch nicht, dass Pissoirs viel weniger Platz benötigen als eine WC-Kabine. Es wurde eine gleich grosse Fläche für die Frauen- und Herren-WC’s eingeplant und gedacht, das sei gerecht.

In allen möglichen Bereichen finden sich Beispiele, wo der Mann als Nutzer eingerechnet wurde und nicht die Frau. Ein durchschnittlich grosses Smartphone ist zu gross für eine durchschnittlich grosse Frauenhand, das oberste Regal im Supermarkt meist zu hoch für eine normal grosse Frau. Und die Formel für die Standardtemperatur in einem Büro wurde in den 1960er-Jahren entwickelt. Basierend auf den Daten eines Männerkörpers. Eine Studie fand heraus, dass diese für Frauen ungefähr zwei Grad zu tief ist.

Diese Punkte sind zwar doof, viele haben sich aber daran gewöhnt. Im Alltag treffen wir jedoch auf Fälle, die gefährlich werden können.

Die unsichtbaren Frauen

Die britische Journalistin Caroline Criado Perez beschäftigt sich bereits länger mit dem Thema Gender data bias und hat letzten März das Buch “Invisible Women”, zu deutsch “Unsichtbaren Frauen”, veröffentlicht. Darin beschreibt sie, wo und wie Frauen bei der Planung vergessen oder übergangen werden. Autos zum Beispiel, wurden für den Durchschnittsmann entwickelt. Frauen müssen weiter vorne sitzen als Männer, um gut an die Pedale zu kommen. Und um eine gute Sicht nach draussen zu haben, sitzen sie aufrechter, als von den Entwicklern eingeplant. Eine US-Amerikanische Studie aus dem Jahr 2011 kam zum Schluss, dass Frauen ein 47 Prozent höheres Risiko haben, bei einem Autounfall schwer verletzt zu werden als Männer. Hinzukommt, dass der Standard Crash-Dummie, der bei Aufprallsimulationen die Überlebenschancen eines Menschen im Auto simuliert, einem Männerkörper angepasst ist. Er ist 1.77 Meter gross und 76 Kilogramm schwer. In der Europäischen Union werden für Crashtests zwar mittlerweile Frauen-Dummies genutzt, die sind jedoch nur kleiner als die männlichen, und beim Muskelbau oder der Wirbelsäule immer noch dem männlichen Körper ähnlicher. Ausserdem werden die weiblichen Puppen nur auf dem Beifahrersitz getestet.

Wenn die Medizin nur den männlichen Körper kennt.

Gibt man bei der Google Bildersuche den Begriff “Herzinfarkt” ein, findet man Bilder wie diese:

Bild: Screenshot google.ch

Also Menschen, die sich an der Brust berühren, weil sie dort Schmerzen haben. Das klassische Symptom eines Herzinfarktes. Bei Männer.
Frauen hingegen weisen häufig Atemnot, Bauchschmerzen oder Übelkeit als Symptome auf. Diese Beschwerden werden häufig falsch gedeutet. Eine Studie der Universität Leeds in Grossbritannien zeigte, dass Frauen eine 50 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit haben, bei einem Herzinfarkt falsch diagnostiziert zu werden, als Männer. Patientinnen brauchen darum oft länger, bis sie in ein Krankenhaus eingeliefert und richtig behandelt werden. Bei einem Herzinfarkt, bei dem es um Leben oder Tod gehen kann.

Ein Grund für den Gender data gap in der Medizin ist, dass lange davon ausgegangen wurde, dass – abgesehen von der Grösse und den Fortpflanzungsfunktionen – keine fundamentalen Unterschiede zwischen dem männlichen und weiblichen Körper existieren. So fokussierte sich die medizinische Ausbildung lange nur auf die männliche Norm.

Doch wie kam es eigentlich dazu, dass Frauen immer “vergessen” gingen? In unserer Gesellschaft ist tief verankert, dass wir den Mann als Norm ansehen und alles was nicht “Mann” ist, als Abweichung davon.

“In der alten Geschichte gab es philosophische Debatten darüber, ob Frauen auch Menschen sind. In vielen Sprachen sind “Mann” und “Mensch” das gleiche Wort.” Weiter führt die Professorin für Entwicklungsökonomie aus: “Es ist heute schwer vorzustellen, aber wir sind immer noch in dieser Kultur, die davon geprägt ist.”

Männer sind also meist das Erste, was uns einfällt, wenn wir an Menschen denken. In den 1960er-Jahren wurde zum ersten Mal ein sogenannter “Draw a scientist”-Test mit Kindern durchgeführt. Sie wurden aufgefordert, einen Wissenschaftler zu zeichnen. Vor 50 Jahren haben gerade einmal 0.6 Prozent eine weibliche Wissenschaftlerin gezeichnet. Mittlerweile sind es etwa 28 Prozent, für die ein Wissenschaftler auch weiblich sein kann. Und damit lagen sie faktisch gesehen nicht so daneben. Laut der UNESCO, der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, sind ungefähr 28 Prozent aller Forschenden weltweit Frauen. Nicht besser sieht es in der Politik aus. Im letzten Jahr waren nur 24 Prozent aller Parlamentarierinnen auf der Erde Frauen.

Das bedeutet, dass an diesen Stellen, an denen Daten gesammelt oder über Gesetze entschieden wird, nur Männer sitzen. Und diese kennen häufig die Bedürfnisse von Frauen gar nicht. Caroline Criado Perez führt in ihrem Buch einige Beispiele auf. So kannte die Sprachassistentin Siri von Apple bei deren Einführung zwar die nächste Viagra-Verkaufsstelle, aber keine Abtreibungsklinik. Im Interview mit “wired” erzählt Perez ausserdem die Geschichte von Sheryl Sandberg, Co-Geschäftsführerin von Facebook, die zum Google-Chef ging und fragte, ob man nicht auch Parkplätze für schwangere Frauen in den Karten anzeigen könnte. Als Mann dachte er bis jetzt schlichtweg nie daran, dass dies ja auch von Bedeutung sein kann.

Diese Anekdote zeigt, dass wir Expertinnengruppen, politische Ämter oder Universitäten diverser besetzen sollten. Es braucht keine Frauenquote aus Imagegründen, sondern weil Frauen, genau so wie Menschen mit einer anderen Religion, sexuellen Orientierung, ethnischen Herkunft oder non-binären Geschlecht eine andere, neue und damit wertvolle Sicht auf Dinge haben, die wir vielleicht bis jetzt als Standard betrachtet haben. Und damit gestalten wir das Leben für viel mehr Menschen gerechter und sicherer, als nur für den Durchschnittsmann.


Mit Informationen von:
Nouvo, Online-Angebot von Schweizer Radio und Fernsehen
wired-Artikel “Why everything from Transit to iPhones is biased toward men”
New York Times-Artikel “The Woman’s Heart Attack”

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