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In Bern auf den Spuren des Qualitätsjournalismus

Das erste Mal ist immer ein heikler Moment. Doch die Stadt Bern und das Magazin "Reportagen" wagten es, und wurden vom Erfolg überrumpelt: Am letzten Wochenende fand das erste "Reportagenfestival Bern" statt. Ein Wochenende, das den besten, ausführlichsten und bewegendsten Geschichten und Reportagen gewidmet war.

3 Tage, über 60 Journalistinnen aus aller Welt, dutzende Programmpunkte von Workshops über Diskussionen zu Speed Datings. Und als Höhepunkt am Samstagabend: Die Verleihung des ersten True Story Awards, einem globalen Preis für die beste Reportage.
Ein Wochenende also, wo in der Aarestadt einmal der Journalismus und nicht das Politgeschehen im Vordergrund stand.

Es war der grosse Wunsch vom "Reportagen"-Verleger Daniel Puntas-Bernet: Ein eigenes Festival und eine eigene Reportagen Auszeichnung. Nach langjähriger Planung war es 2019 soweit. Die Bundesstadt war an Bord und investierte eine halbe Million Franken in den Anlass. Denn solche Events entsprechen laut der Tourismusorganisation «Bern welcome» der Identität der Stadt. Mehr kleinere, hochwertige Events, statt Massentourismus unter den UNESCO-Welterbe Lauben in der Innenstadt.

Und das Reportagenfestival übertraf die Erwartungen. Bei fast allen Veranstaltungen konnten aus Platzgründen nicht alle Besucher hineingelassen werden. Zu gross war der Ansturm auf die Reporterinnen aus aller Welt, trotz wunderbarem Hochsommerwetter.

Der Andrang ist auch auf die sorgfältige Gästeliste zurückzuführen. So erklärte am Samstagmorgen die US-Amerikanische Reporterin und Pulitzer-Preis Gewinnerin Jacqui Banaszynski, wie man Interviews richtig gut macht.
Am Sonntag stand der österreichische Fernsehjournalist Armin Wolf dem Publikum Rede und Antwort. Armin Wolf interviewte als einer der ganz wenigen den russischen Präsidenten Putin. Mit seinen teils provokativen Fragen in seiner Sendung, dem Nachrichtenjournal «Zeit im Bild 2» im österreichischen Rundfunk, brachte er schon manche Politikerinnen aus der Ruhe.

Laudator und Juror Patrick de Saint-Exupéry (r.) gratuliert dem Preisträger Shura Burtin (l.)
Bild: Der Bund, zvg

In etlichen Panel-Diskussionen ging es ausserdem um die Pressearbeit in anderen Ländern, wie zum Beispiel dem Iran, Russland oder China. Die Diskussion «Alltag und Zukunft im Iran» war so beliebt, das mehrere dutzende Menschen keinen Einlass mehr erhielten, weil der Saal schon lange voll war. Diese Diskussion veranschaulichte dann auch umgehend, dass die Presse- und Meinungsfreiheit nicht in jedem Land gegeben ist: Die Journalistin und Autorin Fatemeh Karimkhan wäre eingeladen gewesen, um über ihr Heimatland zu sprechen. Jedoch drohte ihr Arbeitgeber, die iranische Nachrichtenagentur, mit schweren Konsequenzen, falls sie doch nach Bern reise.

 Die besten Reportagen der Welt?

Auch ein anderes Thema interessierte die Besucherinnen und Journalistinnen am Festival: Der Fall Relotius, respektive Reportagen, die nicht faktentreu sind. Claas Relotius schrieb etliche Reportagen aus aller Welt, vor allem für das deutsche Magazin Der Spiegel aber auch für andere grosse deutschsprachige Medien. Er gewann etliche Preise für diese Geschichten. Im Dezember gab der Spiegel bekannt, dass der Grossteil der Texte von Relotius gefälscht oder manipuliert wurden. Fact-Checking wurde durch diesen Fall auch für den True Story Award ein Thema, der am Samstagabend verliehen wurde. Und gerade dessen Namen setzte hohe Ansprüche. In der Panel-Diskussion «Die besten Reportagen der Welt» erklärten Margrit Sprecher — die die 50-köpfige Jury des Awards präsidierte — und Franz Fischlin — Tagesschau-Sprecher und eines der drei Mitglieder der deutschsprachigen Jury — wie man aus 924 Einsendungen aus 98 Ländern in 21 Sprachen die beste Geschichte auswählt. Und dabei noch untersuchen muss, ob die Geschichten sich so wirklich zugetragen haben.

Hannes Britschgi (Leiter Ringier Journalistenschule) im Gespräch mit Margrit Sprecher (Jury-Präsidentin True Story Award) und Franz Fischlin (Leiter Medienclub SRF) v.l.n.r.

Denn gute Reportagen machen genau das aus, was Relotius fälschte: Sie sind bewegend, die Leserinnen können sich in die Situation hineinversetzen und sie hinterlassen einen bleibenden Eindruck.

Als beste Reportage kürte die Jury im Stadttheater Bern übrigens den Text «Monitor 1» vom russischen Reporter Shura Burtin, der mit 75’000 Zeichen über den Menschenrechtsaktivisten Oyub Titiyeb schrieb, der nun wegen angeblichen Drogenbesitzes im Gefängnis sitzt. Platz 2 erhielt Mark Arax aus Kalifornien, der jahrzehntelang über den grössten Bauern der USA und seine Frau. Die beiden seien eigentlich keine Bauern, schreibt die Jury, sondern vielmehr mächtige Unternehmer, die das Land und Leben vieler Menschen veränderten. Auf dem dritten Platz wurde der Chinese Du Qiang mit der Reportage über eine Gruppe immigrierter Arbeiter in Shenzen ausgezeichnet.

 Den Beruf der Journalistinnen besser verstehen

Das Wochenende in Bern ermöglichte es den Besuchern, auf Tuchfühlung mit den Journalistinnen aber auch mit dem Journalismus allgemein zu gehen. Viele Reporterinnen waren vom Andrang ganz überrascht. Denn in Zeiten von Fake-News und sozialen Medien leidet die Wertschätzung an gutem Journalismus. Das Reportagen-Festival wollte in kleinem Rahmen – was durch die gewählten Lokalitäten wie einem Ladenlokal, Kellertheater, Kulturzentrum oder Zunftgesellschaftssaal durchaus funktionierte – den Zuschauern die Kunst des Schreibens näherbringen. Ausserdem hilft es, das Vertrauen in den Journalismus zu stärken. Denn, und sehen es immer noch viele Menschen auf der Welt, gehört eine unabhängige und kritische Medienstimme zu jeder funktionierenden Demokratie. Fernsehprofi Franz Fischlin war am Samstag sichtlich gerührt davon, dass sich so viele Nicht-Journalisten für eine Veranstaltung wie diese interessierten.

Und so bleibt es uns nur noch zu warten. Warten auf nächsten August, wenn hoffentlich die zweite Ausgabe stattfindet, mit ebenso faszinierenden Programmpunkten und hoffentlich grösser dimensionierten Räumen.
Die drei Plätze des True Story Awards waren übrigens total mit einem Preisgeld von 60'000 Franken dotiert. Eine Summe, die verschmerzen lässt, dass die Trophäe eher an ein Bügeleisen erinnert und nicht an einen hochpreisigen Jury-Award.


Alle Texte der 42 Nominierten können unter truestoryaward.org auf Englisch nachgelesen werden.

Unter anderem mit Informationen von:
derbund.ch
reportagenfestival.ch
medienwoche.ch
truestoryaward.org

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