Weekly, KW39

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Guten Abend aus der rethink-Redaktion. 

Die Woche war feucht und nass, das Wochenende des rethink-Teams dagegen eher feucht-fröhlich. Nichtsdestotrotz begrüssen wir Dich herzlich zum ersten Weekly im Oktober! 

Heute im Fokus: Die Wahl eines neuen Regierungspräsidenten in Brasilien und was das für Auswirkungen auf die Demokratie weltweit haben kann. Ausserdem: Ueli Maurer verabschiedet sich. Ein Rückblick auf eine bewegte Karriere und mögliche Nachfolger:innen.

Brasilien wählt. Bolsonaro oder Lula?

Heute sind rund 160 Millionen Brasilianer:innen aufgerufen, einen neuen Kongress und Präsidenten zu wählen. Beobachter und Expertinnen erwarten eine Richtungswahl im bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas. Gegen den aktuellen Präsidenten Jair Bolsonaro tritt der Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der linken Arbeiterpartei an.

Hintergrund:
Unterschiedlicher könnten die Vorstellungen der beiden Kandidaten nicht sein. Bolsonaro versprach bei seiner Amtseinführung vor vier Jahren, mit dem Sozialismus, der Korruption, der Gender-Ideologie und der linken Indoktrination an den Schulen Schluss zu machen. Er wollte der traditionellen Familie, dem Vaterland und Gott wieder zu ihrem Stellenwert verhelfen. Bolsonaro hat in den vergangenen vier Jahren eine Sprache der Gewalt und Aggression in der brasilianischen Politik normalisiert. Ähnlich wie Donald Trump in den USA sorgte Bolsonaro auf der einen Seite für Entsetzen und Unverständnis mit seinem Führungsstil, auf der anderen - der Seite der “Bolsonaristas” - war er endlich der Präsident, der ehrlich und direkt politisiert. Unter Jair Bolsonaro wurden jedes Jahr neue Rekordflächen Regenwald vernichtet und immer häufiger Indigenenreservate angegriffen. Bolsonaro nannte Brasiliens Ureinwohner:innen auch “wie Tiere im Zoo”, die eigentlich nur sein wollen “wie wir”. Umweltschützer bezeichnete seine Regierung als von “ausländischen Mächten gesteuerte Agenten”. 

Der Staatsapparat wurde unter Bolsonaro regelrecht mit Militärs geflutet. Sein Vize­präsident war General, und zahlreiche Minister stammen aus den Streit­kräften. 

Gegen Bolsonaro tritt der 76-jährige Lula da Silva an. Er regierte Brasilien bereits von 2003 bis 2010 erfolgreich. Unter seiner Regierung wuchs Brasiliens Wirtschaft, Millionen Menschen entkamen der Armut, es gab neue Bildungsmöglichkeiten, das Land zahlte Schulden ab und erhielt weltpolitisch mehr Gewicht. Und obwohl Lula während seinen letzten Jahren als Präsidenten nicht gerade als Grüner bekannt war, kündigte er für den Fall eines Wahlsieges eine neue Umwelt- und Klimapolitik an. So will er den illegalen Goldabbau beenden und ernsthaft gegen die Abholzung des Regenwaldes kämpfen. Ein Brasilien unter Lula könnte wieder zu der internationalen Grösse aufsteigen, die es einst war. Als sechstbevölkerungsreichstes Land der Welt ist es auch ein Vorbild für die Demokratie weltweit. Bolsonaro hingegen ging auf Distanz zu westlichen Staaten und Organisationen wie der UNO und verlor dadurch auch deutlich an Einfluss auf der politischen Weltbühne. Eine passende Szene dazu: Beim G20-Gipfel in Rom letztes Jahr stand Jair Bolsonaro verloren am Buffet, während sich Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer angeregt unterhielten.

Was jetzt passiert:
In Umfragen führt Lula da Silva deutlich vor Bolsonaro. Für den ersten Wahlgang werden Lula rund 45 Prozent der Stimmen vorausgesagt. Bolsonaro 33 Prozent. Sollte im ersten  Wahlgang keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten, treffen die beiden stärksten Bewerber am 30. Oktober in einer Stichwahl aufeinander. 

Egal wie das Ergebnis aussieht, für Brasilien wird es eine angespannte Zukunft werden. Bolsonaros zentraler Punkt im Wahlkampf ist die Diskreditierung des Wahlprozesses an sich. Er hat angekündigt, das Wahlergebnis nur zu akzeptieren, wenn die Wahlen “sauber und transparent” seien. Und entgegen allen Umfragen behauptet er, dass er bereits im ersten Wahlgang mit 60 Prozent gewinnen werde, falls nicht, könne es nicht mit rechten Dingen zugehen. 

Bei einer Veranstaltung am brasilianischen Nationalfeiertag rief er die Brasilianer:innen dazu auf, sich bereitzuhalten, um das Vaterland zu verteidigen. Beobachter:innen erwarten im Falle einer Niederlage Bolsonaros einen Aufstand, ähnlich dem Sturm der Trump Anhänger auf das US-Kapitol - oder vielleicht noch schlimmer.

Viele seiner Anhänger:innen sind bewaffnet, Bolsonaro hat den Waffenerwerb erleichtert, die Zahl der bewaffneten Bürger:innen stieg um 500 Prozent. “Ein bewaffnetes Volk lässt sich nicht versklaven”, wiederholt Jair Bolsonaro im Wahlkampf immer wieder. 

Mit ersten Ergebnissen der Wahlen ist in der Nacht auf Montag zu rechnen.



Ueli Maurer tritt Ende Jahr zurück.

Das gab der dienstälteste Bundesrat am Freitag bekannt. Obwohl seit längerer Zeit klar war, dass dies wohl in nächster Zeit geschehen wird, kam die Ankündigung sowohl für Medien als auch Politiker:innen überraschend. Der 71-jährige Maurer tritt nach 44 Jahren in der Schweizer Politik, davon 14 in der Landesregierung und 12 als Parteipräsident der SVP, kürzer und will mehr Zeit mit der Familie und Sport verbringen können.

Hintergrund: 
Maurer gilt “als einer der schillerndster Schweizer Politker der letzten Jahrzehnte” umschrieben ihn die Tamedia-Zeitungen. Ikonisch sein Satz “Kä Luscht”, als er 2015 nach seiner Wiederwahl in den Bundesrat einem Journalisten direkt ins Gesicht sagte, dass er kein Interview geben will. Maurer konnte gekonnt Staatsmännisch auftreten, blieb aber sich selber und gehöre zu den Politikern, “die zu Anfang ihrer Karriere belächelt, später gefürchtet oder gehasst und am Schluss respektiert werden”, kommentierte die Neue Zürcher Zeitung. 

Unter Maurer als Präsident der Schweizer Volkspartei von 1996 bis 2008 etablierte sich die SVP als wählerstärkste Partei der Schweiz. 

Im Bundesrat begann er im ungeliebten Verteidigungsdepartement VBS, hatte die Vision die Schweizer Armee zur besten Armee der Welt zu machen, scheiterte mit dem Kauf der schwedischen Gripen-Kampfjets vor dem Volk deutlich. Eine der bisher grössten politischen Niederlagen Maurers. 

2016 wechselte er in das Finanzdepartement und fand dort laut der NZZ “die Rolle seines Lebens". Besonders auch im Parlament werden die Covid-19 Kredite gelobt, die Ueli Maurer praktisch über Nacht mit den Schweizer Banken ausgehandelt hatte und so etlichen Unternehmen unkompliziert finanzielle Hilfe während der Pandemie bieten konnte. 

Maurer konnte hingegen auch launisch und unkollegial. Dies zeigte sich insbesondere in der Pandemie, als er über die Covid-App spottete, die zweite Impfung verweigerte, oder sich ein Trychler-Shirt überzog. Nur um später wieder linientreu die bundesrätliche Coronapolitik zu unterstützen. “Maurer beherrscht das Spiel zwischen Regierung und Opposition wie kein Zweiter. Nicht nur bei Corona. Immer wieder ritzte oder verletzte er das Kollegialitätsprinzip.” kommentiert der Chefredaktor der CH Media Zeitungen. 

Bei seiner Rücktrittsankündigung sorgte Maurer direkt auch für eine provokante Bemerkung. Konkret wurde Maurer gefragt, ob er sich über eine Frau als Nachfolgerin freuen würde. Der Bundesrat antwortete unter anderem: “Ob meine Nachfolge eine Frau oder ein Mann ist, ist mir eigentlich gleich. Solange es kein “Es” ist, geht es ja noch.”

Politisch engagierte Transgender-Personen fordern nun von Maurer eine Entschuldigung. Mit seiner Aussage habe er Personen, die nicht seiner Vorstellung von Frau und Mann entsprächen, jegliche Kompetenz für das Amt als Bundesrat abgesprochen, schrieb das Transgender Network Switzerland (TGNS) auf seiner Website.

Was jetzt passiert:
Mit jedem Rücktritt beginnt auch die Diskussion um die Nachfolge. 

SVP-Präsident Marco Chiesa gab in einem Interview in Aussicht, dass dem Parlament mehr als eine Person zur Wahl im Dezember vorgeschlagen werden soll. Die SVP-Fraktion werde aber schlussendlich darüber entscheiden. Sicher sei aber jetzt schon, dass die Kandidat:innen aus der Deutschschweiz kommen sollen. 

Mögliche Namen, die bereits in den Medien genannt wurden, sind etwa Nationalrat und Alt-Parteipräsident Albert Rösti, ehemalige Nationalrätin und aktuell Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli. Rösti liess verlauten, dass er sich Überlegungen mache, aber es brauche dafür zunächst Gespräche mit der Familie und der Partei. Der Berner Albert Rösti war bereits 2015 als Bundesratskandidat vorgeschlagen worden, damals sassen aber mit Johann Schneider-Amman und Simonetta Sommaruga zwei Vertreter aus dem Kanton Bern im Bundesrat, weshalb Röstis Kandidatur wieder zurückgezogen wurde. Rösti gilt als jovial und stets freundlich, etablierte sich als Energiepolitiker, ist Präsident des Schweizerischen Wasserwirtschaftsverband und Auto Schweiz. Rösti fährt einen gemässigten SVP-Kurs und wird auch deshalb ausserhalb der SVP geschätzt.

Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Rickli konzentriere sich derzeit auf die Erneuerungswahlen der Zürcher Regierung im Februar 2023. Bis heute habe sie sich gar nie überlegt, für den Bundesrat zu kandidieren, weil sie sich für eine weitere Legislatur als Regierungsrätin bereiterklärt habe. Maurers Rücktritt sei für sie überraschend gekommen. Rickli gilt als eine der Favoritinnen, da sie gut vernetzt und stark im Auftritt ist. Ausserdem hat sie Erfahrungen im Parlament und der Exekutive. Allerdings wich sie als Gesundheitsdirektorin während der Pandemie vom SVP-Kurs ab.

Andere Parteiexponent:innen wie Fraktionspräsident Thomas Aeschi oder Obwaldner Nationalrätin Monika Rüegger äusserten sich noch nicht zu einer möglichen Kandidatur. 

Andere, etwa Vizepräsidentin Magdalena Martullo-Blocher und Nationalrat Franz Grüter liessen verlauten, dass sie für das Amt nicht bereitstehen.

Weitere Nachrichten der Woche in Kurzform:

Ukraine: 
Am Freitag hat der russische Präsident Wladimir Putin die ostukrainischen Gebiete Saporischschja, Cherson, Donezk und Luhansk in der russischen Föderation willkommen geheissen. In vom Kreml inszenierten Referenden haben sich jeweils eine grosse Mehrheit der Bevölkerung für die Annexion an Russland ausgesprochen. Westliche Staaten verurteilten Russland stark für diesen Schritt. US-Präsident Joe Biden sprach von einem Verstoss gegen internationales Recht und die EU nannte die “Referenden” illegal. Die Russische Regierung habe das Grundrecht der Ukraine auf Unabhängigkeit verletzt.

Weiterhin verlassenn tausende Russen das Land, nachdem Wladimir Putin die Mobilmachung bekannt gab. Kasachstan meldete, dass seit der Mobilmachung an die 100’000 Russen eingereist seien. Finnland schloss die Grenzen zu Russland, nachdem innert einer Woche mehr als 40’000 Russen über die Grenze kamen. In der EU und Schweiz laufen Diskussionen, ob russische Kriegsdienstverweigerer Asyl erhalten sollen. Staaten, die an Russland grenzen, lehnen das ab, Deutschland hingegen signalisiert Offenheit. 

Dart-Mission crasht in Asteroiden:
Erstmals hat die Menschheit die Bahn eines Himmelskörpers beeinflusst. In der Nacht auf Dienstag krachte die Sonde Dart mit 22’000 Km/h in den Asteroiden Dimorphos. Ziel der Mission ist es, herauszufinden, inwiefern sich Asteroiden auf dem Weg zur Erde von ihrem Kollisionskurs abbringen lassen.

Hörenswert: Im ZEIT-Podcast “Alles gesagt?” sprach der NASA-Wissenschaftsdirektor und Astrophysiker Thomas Zurbuchen über seine Arbeit mit einem Etat von fast acht Milliarden US-Dollar, seiner Kindheit in Heiligenschwendi oberhalb von Thun in den Berner Alpen und welchen Weltall-Film er am Besten findet. Das Gespräch dauert fünf Stunden, was sich nach einem Monster-Interview anhört, ist jedoch absolut kurzweilig und für Weltall-Interessierte, Physikerinnen und Führungspersonen hörenswert: zeit.de/alles-gesagt


Redaktionsschluss: 18:20
Weekly 39/2022

© rethink-blog 2022

Oli Wingeier

Oli, findet alles Neue spannend und erstmal gut, ausser die neuen Rechten. Duscht jeden Morgen zu lange, besitzt mehr als tausend Notizbücher und zu viele Gedanken (oder umgekehrt).
Für rethink wühlt er sich jede Woche durch etliche Nachrichten und kreiert dann daraus eine Zusammenfassung der wichtigsten News. Zu lesen und hören als “Weekly”

https://instagram.com/oli.wingeier
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