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öV in Krisenzeiten - wie geht das?

Der öffentliche Verkehr in der Schweiz muss praktisch immer weiterlaufen auch bei einer Pandemie oder schlimmstenfalls sogar im Kriegsfall. Wie genau das funktioniert, versucht unser Autor zu erklären, der momentan seine Arbeitstage an einem leeren Bahnhof verbringt.

Die Ruhe am Bahnhof ist immer noch gewöhnungsbedürftig. Ebenso die neu eingeführten Grenzkontrollen für Reisende aus Deutschland und Frankreich. Dazwischen ich. Meine gelbe Leuchtweste fällt auf. Das soll sie auch, denn ich bin die Ansprechperson bei Fragen von Zugreisenden, aber auch vom Zugpersonal. Also im Normalfall. Als letzten Freitag der Bundesrat neue Massnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 bekanntgab, informierte auch meine Arbeitgeberin kurz darauf das Personal über die Änderungen im Betrieb. Ich darf nur noch betrieblich notwendige Arbeiten ausführen, in der Zwischenzeit muss ich mich zurück ziehen. Keine Fragen von Kunden beantworten, keine Reisende über Gleisänderungen informieren. Die müssen sich jetzt auf die Anschriften und Durchsagen verlassen.
Und eine Anschrift hat es seit Montag in sich: “Der gesamte Verkehr wird schrittweise auf ein Grundangebot reduziert.”

Damit bereitet sich der gesamte schweizerische öffentliche Verkehr auf das vor, was eigentlich nie passieren sollte. Der publizierte Fahrplan kann nicht eingehalten werden, der Betrieb wird soweit wie möglich reduziert, wobei sich Menschen immer noch bewegen können, etwa um sich zu versorgen oder sich in ärztliche Behandlung zu begeben.

Eine solche Massnahme kann nicht alleine von der SBB entschieden werden. Dies geschieht in enger Absprache mit dem Bundesrat und dem Bundesamt für Verkehr. Dabei hat eine Reduzierung mehrere Ziele:

  • Schutz des Personals.
    Die Mitarbeitenden im öffentlichen Verkehr können kein Home-Office machen, sind täglich “draussen”.

  • Vorkehrungen für allfällige Personalausfälle.
    Gerade auch wegen oben: Das betrieblich notwendige Personal ist nicht vor einer Ansteckung gefeiht. Ausserdem drohen Ausfälle durch Eltern, die ihre Kinder betreuen oder Mitarbeitende, die einer Risikogruppe angehören. Aktuell sind bei der SBB zwischen 10 - 30% des betrieblich notwendigen Personals nicht im Einsatz. Entweder weil sie zu der Risikogruppe gehören, Kinder betreuen oder krank sind. Die SBB rechnet damit, dass sich diese Zahl auf bis zu 50% erhöhen kann.

  • Anreize zum Reisen verhindern.
    Noch immer ist vielen Mitmenschen nicht klar, dass wir uns in einer ausserordentlichen Lage befinden, die wir wohl nur einmal im Leben erleben werden. Zum Schutz von Mitmenschen sollte momentan niemand unterwegs sein, der nicht Zuhause bleiben kann. Und solange 75-jährige Frauen das Gefühl haben, sie können einen Ausflug durch die Schweiz unternehmen, weil die Züge ja trotzdem fahren, müssen wir was unternehmen.

Denn das oberste Ziel ist, allen Krisen zum Trotz: Die Schweiz mobil halten und damit die Schweiz handlungsfähig erhalten.
Güter müssen transportiert werden, Spitäler müssen für Pflegepersonal und Patienten erreichbar bleiben aber auch etliche Bereiche im Lebensmittelbereich sind auf den öV angewiesen.

Systemführerinnen SBB und PostAuto

Die Koordination zwischen allen Transportunternehmen in der Schweiz wird an zwei Unternehmen aufgetragen. Dabei übernehmen die SBB die Systemführerschaft für alle Eisenbahnen im Land, die Firma PostAuto ist für alle Bus- und Tramunternehmen verantwortlich. Dabei wird angeschaut, dass alle Regionen in der Schweiz weiterhin erschlossen werden, dass die Bedürfnisse der Unternehmen befriedigt werden und dass alle öV-Unternehmen die Massnahmen auch stemmen können.

Der Fahrplanwechsel, der in den nächsten Tagen stattfindet, ist der grösste Fahrplanwechsel und dies innert kürzester Zeit. Normalerweise arbeiten die Expertinnen monatelang im Voraus für den Wechsel im Dezember.

Um sicherzustellen, dass die Reisekette für die Kundinnen und Kunden weiterhin besteht, wird ab Donnerstag 19. März der Verkehr Top-Down heruntergefahren. Das bedeutet, dass zuerst im Fernverkehr Angebotsreduzierungen gemacht werden. In weiteren Schritten wird der Takt bei S-Bahnen und schliesslich bei Bus und Trams reduziert.

Die Daten über die Verbindungen werden momentan bis spätestens um 20 Uhr am Vortag in den Online-Fahrplänen eingespiesen. Ab 26. März sollten alle Daten eingetragen sein und keine grossen Änderungen mehr vorgenommen werden.
Die Arbeiten laufen momentan auf Hochtouren, um allen Reisenden so schnell wie möglich alle Informationen zur Verfügung zu stellen. Da jedoch alle Fahrplandaten von allen Unternehmen hauptsächlich manuell in das System eingetragen werden müssen und nebenbei auch noch eine Qualitätssicherung stattfinden sollte, dauert es eben eine gewisse Zeit.

Wen braucht es eigentlich um den Verkehr am Laufen zu halten?

Natürlich all die, die wir täglich sehen. Bus- und Tramführer, Lokführerinnen und die Kundenbegleiter und das Verkauspersonal. Jedoch arbeiten etliche Mitarbeitende hinter den Kulissen daran, dass alle Menschen, die darauf angewiesen sind, reisen können. Dazu zählen die Zugverkehrsleiterinnen in den Betriebszentralen, Ereignismanager im Traffic Control Center, Rangiermitarbeitende, Einteilerinnen und auch die Betriebsfeuerwehren und Mitarbeitende in der Instandhaltung.

Und all diese Menschen geben in dieser Zeit alles, damit der Verkehr stabil läuft. Es ist auch für uns nicht einfach, viele von uns schieben Extrastunden um die Ausfälle von Kollegen zu kompensieren, erhalten täglich Änderungen im Arbeitsplan und kommen trotzdem mit einem guten Gefühl zur Arbeit.

Weil wir in gewisser Weise dafür leben. Weil es uns wichtig ist, dass ihr euch auf den öffentlichen Verkehr verlassen könnt. Dass Gesundheitspersonal mit uns zur Arbeit fahren kann. Dass der Betrieb weiterläuft.

Und daher noch einmal der Appell: Bleibt zu Hause. Ausser ihr müsst zur Arbeit, die ihr nicht von Zuhause aus machen könnt, ausser ihr müsst einkaufen oder ihr müsst zum Arzt oder Apothekerin.

Wie es so schön heisst: Der Bundesrat und die Schweiz zählen auf euch!


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