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Wo endet unsere Solidarität?

erstmals erschienen am 8. April 2020 | Lesezeit: ca. 11’

Bild: Emin Ozmen—Magnum Photos for TIME

Die Republik titelt mit der Frage: "Führen wie gerade einen Krieg gegen Flüchtlinge?", der Berliner Tagesspiegel fordert: "Holt sie aus der Hölle!" und Heribert Prantl, so was wie der Chef-Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, widmete seine ganze Kolumne der Frage, was wir selber tun würden, wenn wir Geflüchtete wären.

Und wir von rethink fragen: Was ist denn überhaupt los?
Und kann man dem europäischen Volk — das gerade dabei ist, mit desinfektionsmittel-getränktem Toilettenpapier einen Virus zu bekämpfen — überhaupt zumuten, sich mit Flüchtlingsfragen an der europäischen Aussengrenze zu befassen?

Zur ersten Frage:

Der Sommer 2015 wird vielen von uns noch in guter Erinnerung sein. Es war der Sommer, als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel den noch immer nicht ganz verklungenen Satz "Wir schaffen das" sagte. Und damit meinte sie die Flüchtlingskrise. Eine Krise, die Europa als Kontinent gefordert hatte, wie seit der Finanzkrise nichts mehr. Die Probleme, die Kriegsopfer, die bis anhin weit weg von uns waren, standen plötzlich vor uns. Respektive standen im Mittelmeer auf einem überfüllten Gummiboot ohne Motor, dafür mit Schlagseite.

Europa wurde gezwungen, sich mit diesen Menschen — die ihr Leben und ihre Ersparnisse riskierten, um zu flüchten, um nach Europa zu kommen — zu beschäftigen. Egal ob es in ihre politische Agenda passte oder nicht.
Im Jahr 2015 erreichten über 1.3 Millionen Asylbewerberinnen Europa. Fast doppelt so viele wie das Jahr zuvor.
Im selben Jahr aber führte die EU in Griechen­land und Italien den Hotspot-Approach ein. Das Ziel: die Identifikation und Registrierung von Asylsuchenden in Zentren an der europäischen Aussengrenze. Und mit dem neuen Asylgesetz, das die griechische Regierung ausarbeitete, wurde festgelegt, dass die Geflüchteten die Inseln nicht verlassen dürfen, solange der Asylantrag nicht abgeschlossen ist. Das kann Jahre dauern.
Für die Europäische Union kam dies gelegen, weil Flüchtlinge, die auf Inseln festsitzen, nicht über die grüne Grenze kommen können.

Die Europäische Kommission errechnete 2015 einen Verteilschlüssel, der rund 120’000 Menschen mit Bedürfnis auf internationalem Schutz auf insgesamt 24 EU-Länder verteilen sollte. Viele Länder haben bis heute nur einem Bruchteil dieser Menschen Schutz gewährt. Hingegen haben einige Länder wie Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz freiwillig Flüchtlinge von Italien oder Griechenland übernommen. In der Zwischenzeit (über)füllten sich aber die provisorischen Lager auf den griechischen Inseln immer weiter.
Anfangs April gab übrigens der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Urteil bekannt, dass die drei Staaten Polen, Ungarn und Tschechien zur Hochzeit der Flüchtlingskrise gegen EU-Recht verstossen haben. Sie weigerten sich beharrlich, den Beschluss über den Verteilschlüssel umzusetzen — obwohl der EuGH dessen Rechtmässigkeit in einem späteren Urteil bestätigte. Polen und Ungarn haben nach Zahlen der Kommission keinen einzigen Asylbewerber im Rahmen aufgenommen, Tschechien zwölf.

Der Deal

2016 verabschiedete die EU mit der Türkei einen Flüchtlingsdeal. Dieser sah vor, dass die Union bis zu sechs Milliarden Euro in Flüchtlingsprojekte in der Türkei investierte. Ausserdem wurde in Aussicht gestellt, die Verhandlungen über den Beitritt der Türkei in die EU wieder aufzunehmen. Ein wesentlicher Bestandteil der Abmachung war, dass die Türkei die Grenzen schliesst und «irreguläre» Flüchtlinge zurücknimmt, die trotzdem in Griechen­land ankommen. Für jeden «irregulären» Flüchtling, der zurück­geschafft wird, nimmt die EU einen «regulären» Flüchtling auf – maximal aber 72’000 Menschen.

Anfangs März verkündete der Türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dass er seine Grenzen in Richtung Griechenland öffnen werde, da sich die Europäische Union sich nicht an die Abmachung halte.
Griechenland reagierte prompt, setzte die Bearbeitung von Asylverfahren aus und schickte das Militär an die griechisch-türkische Grenze.

Kriegszustand zwischen Griechenland und der Türkei

Seit Anfang 2020 hat Griechenland ein neues Asylgesetz. Neben der Befähigung, Land zu enteignen, wurden auch die Hürden für Asylanträge drastisch erhöht.
Die Soziologin Artemis-Maria Fyssa führte im Gespräch mit der “Republik” aus: «Zum Beispiel brauchen Asyl­suchende neu einen Rechts­beistand, den sie selbst bezahlen müssen, sofern sie überhaupt einen finden». Zudem seien die Standards zur Vulnerabilitäts­prüfung strenger geworden: «Eine post­traumatische Belastungs­störung zum Beispiel ist kein Grund mehr, der eine Rück­führung verhindert.»
Die griechische Regierung will Härte zeigen – und macht damit alle Seiten wütend. Bei der Bevölkerung, in der Politik und in den Camps kocht das Blut schon, als Erdoğan die Grenzen öffnet.

Der grosse Knall durch die Grenzöffnung ist jedoch ausgeblieben. Zwar kann man die rund 13’000 Menschen, die mit Bussen an die türkisch-griechische Grenze gekarrt wurden, nicht ignorieren. Vergleichbar mit dem Sommer 2015 ist es aber nicht. Trotzdem markierte Griechenland Härte und Willen, die Menschen nicht ins Land zu lassen.

Auf Videos ist zu sehen, wie die griechische Küstenwache gefährliche Manöver um die Schlauchboote fährt, um sie in türkische Gewässer zurückzutreiben. Von vielen Booten, die in der Ägäis gesichtet wurden, ist nicht klar, ob sie das Festland erreicht haben.

An der Grenze an Land wird hingegen mit Tränengas auf flüchtende, hilflose Menschen geschossen. Diese sind eingekesselt. Die Türkei hindert sie an der Rückkehr, Griechenland lässt sie nicht rein.

Zum Schutz setzt Griechenland das Recht auf Asyl aus, vorerst sollen für einen Monat keine neuen Asyl­anträge mehr angenommen werden. Das widerspricht dem EU- und dem Völkerrecht, weder im einen noch im anderen gibt es eine Klausel, die das Aussetzen des Asyl­rechts erlaubt. Und eine Recherche der “New York Times” belegte: Griechenland internierte an der Grenze Geflüchtete und brachte sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zurück in die Türkei.

Und jetzt?

Die Lage zwischen Athen und Ankara hat sich soweit beruhigt, dass die Türkei die Grenzen wieder geschlossen hat. Dafür erreicht nun eine viel grössere Gefahr die Menschen in den Camps auf den griechischen Inseln. Das Virus Sars-CoV-2.

Die Lager sind chronisch überfüllt. Camp Moria auf Lesbos ist mit sieben Mal mehr Menschen besetzt als es ursprünglich für geplant wurde. Die Vereinten Nationen und das griechische Gesundheitsministerium fordern seit Langem, das Lager zu räumen, da es eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellt.

Bild: Hannah Bombeck für Amnesty International

«Es gibt kein Brennholz, deshalb fällen sie jahrhunderte­alte Olivenbäume. Es gibt keine Toiletten, deshalb sickern die Fäkalien in den Boden. Der Abfall bleibt liegen, weil sich die Müllabfuhr nicht ins Lager traut. Man riecht die ganze Situation schon Kilometer entfernt», schildert Franziska Grillmeier, ihres Zeichen freie Journalistin auf Lesbos, die Lage, mit der die Geflüchteten und auch die Insel­bewohner seit Jahren leben.

Um das Coronavirus versuchen einzudämmen, sind strikte Hygienemassnahmen essenziell. Doch wie soll man regelmässig Händewaschen, wenn sich 1’500 Menschen einen einzigen Kaltwasser-Hahn teilen? Geschweige denn wie soll ein Mindestabstand zu anderen Menschen eingehalten werden?

Und das bringt uns zur zweiten Einstiegsfrage:
Kann man von uns jetzt verlangen, an Geflüchtete zu denken?

Europa steht still. Mehrere Länder haben Ausgangssperren verhängt, Gesundheitssysteme sind überlastet, Todeszahlen schnellen die Höhe. Wir alle durchleben gerade eine sehr schwierige Zeit. Und doch dürfen wir nicht vergessen, dass wir immer noch in einer privilegierten Situation sind.
Wir werden nicht von einem Flüchtlingslager ins nächste getrieben, wir sind nicht auf der Flucht von Bombenanschlägen, wir haben ein wasserfestes Dach über dem Kopf, wir haben genügend Essen. Und wenn wir krank werden, können wir uns darauf verlassen, dass wir versorgt werden.

Wir alle sollten nicht nur Solidarität mit den Mitmenschen in unserer eigenen Gesellschaft zeigen — was übrigens nichts Verwerfliches ist — sondern wir müssen uns auch bewusst sein, dass es auf dieser Menschen Millionen von Menschen gibt, die dringend lebenswichtige Hilfe benötigen.
Während die Schweiz fast 5’000 Schweizerinnen zurückfliegen lässt, sollen wir als Land nicht fähig sein, Geflüchtete aus menschenunwürdigen Lagern retten zu können?

In seiner wöchentlichen Kolumne in der Süddeutschen Zeitung sagte Heribert Prantl diese sehr schöne und passende Sache: “Europa lebt nicht nur vom Euro; es lebt von seinen Werten, von der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Freiheit der Person, der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und der Freizügigkeit. Europa lebt davon, dass es die Menschenwürde schützt. Die Menschenwürde ist nicht aus Seife, sie nützt sich nicht ab, nur weil es angeblich zu viele sind, die sich auf sie berufen. Handeln wir so, wie wir selbst behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären.”

Handeln: Europa spricht momentan nur davon, doch macht nichts. Deutschland will insbesondere Kinder und Covid-19-Risikogruppen evakuieren.
Der Verein “Mission Lifeline” hat innert weniger Tagen Geld für zwei Flüge von Griechenland nach Deutschland gesammelt. Die Europäische Union spricht von rund 1’500 Menschen, die von ihr evakuiert werden sollen. Aber eben, passiert ist noch nichts

Und es kann nicht oft genug gesagt werden:
Jeder Mensch auf dieser Welt hat das Recht auf Leben. Egal ob er in seinem Wohnzimmer in der Schweiz oder in einem dramatisch überlasteten Flüchtlingscamp auf Lesbos sitzt.

Wir können wegschauen, wir können uns auf unsere Nation konzentrieren, wir können argumentieren, dass wir wichtigeres zu tun haben.
Da können wir aber auch Europa wegen fehlender Glaubwürdigkeit schliessen.

Wir können aber auch gemeinsam aufstehen. Das geht digital genau so gut wie physisch. Wir können uns dafür einsetzen, dass Hilfsbedürftige aus Camps wie Moria evakuiert werden. Wir können spenden, damit die Organisationen, die alles daran setzen, dass es den Menschen in Griechenland besser geht, finanzielle Sicherheit haben.

Und wir können uns fragen: Wo endet unsere Solidarität? Ist es vor dem eigenen Nasenspitz? An der Landesgrenze? Oder schlicht dort, wo auch unser Gewissen flöten geht?


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