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Woche 38 - Das Jahr der Neuwahlen?

Israel hat es soeben getan, in Österreich steht es Ende September an, in Grossbritannien und Spanien droht es aktuell, Italien konnte es in letzter Sekunde verhindern. Die Rede ist von Neuwahlen. Was die genau sind, welche Gefahren solche Wahlen bedeuten und wieso wir diese in der Schweiz nicht wirklich kennen:

Auch wenn unser Anspruch ist, so einfach und kurz wie möglich zu berichten, ist dieser Text lang geworden. Denn nicht immer reichen wenige Worte aus, um die Wichtigkeit erklären zu können. In diesem Sinne wünschen wir viel Spass bei der Lektüre:

In jeder geordneten Republik oder Demokratie finden regelmässig Wahlen statt. In diesen werden die Volksvertreter ins Parlament oder die Regierung gewählt. In der Schweiz finden die National- und Ständeratswahlen alle 4 Jahre statt. Das nächste Mal übrigens am 20. Oktober!

Soweit so gut. Doch was sind nun Neuwahlen? Das ist grundsätzlich nichts anderes als vorgezogene Wahlen. Und so gelten Neuwahlen auch als Folge einer gescheiterten Regierung. Um das besser zu verstehen, schauen wir uns einige aktuelle Beispiele an. Doch zuerst die Grundsätze bei einer Wahl:

Die stimmberechtigen Personen wählen meist mehrere Parteien ins Parlament. Entweder erreicht eine Partei dabei die Mehrheit, damit sie regieren kann. Dies ist zum Beispiel in Grossbritannien mit der Konservativen Partei (auch Tories genannt) der Fall. Das Staatsoberhaupt, hier jetzt die Queen, beauftragt ein Mitglied dieser Partei mit der Regierungsbildung. Diese stellt den Premierminister und die anderen Akteure im Kabinett, wie Aussenminister, Finanzminister etc.

Erreicht keine Partei eine Mehrheit, müssen sich zwei oder mehrere kleinere Parteien zu einer Regierungskoalition zusammenschliessen. Dies ist in vielen Ländern Europas der Fall. Wie zum Beispiel in Deutschland. Dort erreichen die Sozialdemokraten (SPD) und die Christliche Union (CDU/CSU) eine Mehrheit im Bundestag. Dabei stellt die CDU als stärkere Kraft die Bundeskanzlerin (aka Premierministerin in anderen Ländern) und die SPD den Vize-Bundeskanzler.

Und was ist nun in den Ländern mit Neuwahlen so los?

Ein Ausschnitt aus zwei Ländern, die entweder gerade gewählt haben oder kurz davor sind:

Israel

Das israelische Volk wählte bereits im April 2019 eine neue Regierung. Dabei wurde Likud, die Partei des bereits regierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu nur ganz knapp die stärkste Kraft. Es zeichnete sich eine Koalition mit der ebenfalls konservativen Jisra'el Beitenu ab. Die beiden Parteien schafften es jedoch nicht, sich über die Arbeit als Regierung einig zu werden.

Sara und Benjamin Netanjahu am Abstimmungsdienstag.
Bild: diepresse.com/apa

So rief der Staatspräsident für den 17. September Neuwahlen aus. Die Ausgangslage war jedoch fünf Monate später genau gleich. Die gleichen Spitzenkandidaten, die gleichen Parteien und die gleichen Hochrechnungen. Schlussendlich erhielt die Partei vom bisherigen Ministerpräsidenten Netanjahu minimal weniger Stimmen (25.66 % zu 25.03 %) als die Jisra’el Beitenu. Wie es in Israels Politik nun weitergeht, ist unklar. Für Netanjahu würde eine Regierung ohne ihn das politische Ende bedeuten. Gegen ihn laufen mehrere Strafuntersuchungen, unter anderem wegen Korruption. Falls er weiterhin an der Regierungsspitze sitzen sollte, könnte er sich einer möglichen Strafe entziehen.

Österreich

2017 wählten die wahlberechtigten Österreicherinnen und Österreicher ihren Nationalrat. Damals wurde die konservative Partei ÖVP ( Österreichische Volkspartei) die stärkste Kraft, erhielt also vom Volk am meisten Stimmen. Zusammen mit der drittstärksten Partei, der rechtsextremen FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) begann die Koalitionsverhandlungen. Dabei geht es darum, sich auf eine gemeinsame Regierung vorzubereiten. Die beiden Parteien hielten zusammen ca. 56% der Stimmen. Die Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) wurde von Beginn weg von verschiedenen Seiten kritisiert. Das Finale wurde Anfang Sommer erreicht, als die deutschen Zeitungen Spiegel und Süddeutsche ein belastendes Video aus dem Jahr 2017 veröffentlichten. Das Video wurde vor den Wahlen aufgenommen und zeigte unteranderem Heinz-Christian Strache in einer Finka auf Ibiza, wo er einer jungen Dame aus Russland offensichtliche Korruptionsangebote machte. Zum Beispiel bot er ihr an, grosse Bauprojekte in Österreich ihrer Baufirma zu überreichen, wenn sie im Gegenzug als Aktionärin in die österreichische Kronenzeitung einsteigt und so die Berichterstattung über Strache positiv beeinflusst. Wer dieses Video aufgenommen hatte und wer diese ominöse Frau war, die offensichtlich keine russische Millionärin ist, ist noch ungeklärt. Klar ist jedoch, dass die «Ibiza-Affäre» zum Rücktritt von Heinz-Christian Strache führte und kurz darauf zum Zusammenbruch der ÖVP/FPÖ Regierung.

Für die Wahlen am 29. September sehen die Umfragen wieder die ÖVP als Gewinnerin, eine Koalition mit den FPÖ ist wieder im Bereich des Erreichbaren. Die österreichische Staatskrise könnte also im Herbst genau so enden, wie sie anfangs Mai begonnen hatte.

Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) mit Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ). v.l.n.r.
Bild: nzz.ch/reuters

Neuwahlen sind grundsätzlich nichts unübliches. Es ist eine Möglichkeit in einer Demokratie um eine Regierung, die in einer Sackgasse steckt, neu aufzustellen. Gleichzeitig bedeuten Neuwahlen auch immer Unsicherheit. Meist wird für die Zeit zwischen Regierungskrise und Wahlen eine Übergangsregierung installiert, so wie in Österreich über den Sommer. Diese kann nicht sonderlich viel erreichen, da nicht klar ist, wer als Nächstes an die Macht kommt und was die Ziele der neuen Regierungspartner sind.

Neuwahlen lösen aber auch beim Volk Unsicherheit aus. Kommt wieder die vorherige Partei an die Macht? Geht es wieder genau gleich weiter wie bisher? Oder wird das gesamte Politsystem einmal durchgerüttelt und alles wird anders? Ist anders dann besser oder schlechter als vorher?

Auf der anderen Seite können Neuwahlen auch als Machtspiele dienen. Dies erlebte gerade Italien. Dort trat der Innenminister Matteo Salvini mit seiner rechtskonservativen Partei «Lega» aus der Regierung mit den «Cinque Stelle» (zu Deutsch: Fünf-Sterne-Bewegung) aus. Er erhoffte sich dadurch offensichtlich Neuwahlen, wo er wohl seinen Wählergewinn deutlich hätte steigern können. Sein Plan ging jedoch nicht auf, statt Neuwahlen einigten sich in letzter Sekunden die Sozialdemokraten (Partito Democratico) mit der Fünf-Sterne-Bewegung auf eine Regierung unter dem bisherigen, parteilosen Regierungschef Giuseppe Conte. Es fanden keine Neuwahlen statt, Matteo Salvini geht ohne Machtspiele unter und hat keine Regierungsbeteiligung mehr.

Und wie sieht das eigentlich in der Schweiz aus?

Unser politisches System gilt gemeinhin als sehr langsam. Was oft als Nachteil wahrgenommen wird, ist aber auch ein Vorteil. Statt einem Regierungschef haben wir gleich sieben Stück davon im Bundesrat. Der Gesamtbundesrat wird zwar alle vier Jahre nach der Gesamterneuerung des Nationalrats gewählt, jedoch wurden seit 1848 erst viermal Bundesräte, die sich wieder zum Amt zur Verfügung stellten, nicht wiedergewählt. Dies geschah in jüngerer Zeit 2003 mit der Bunderätin Ruth Metzler-Arnold und vier Jahre später mit Bundesrat Christoph Blocher.

Da jeder der sieben Köpfe im Bundesrat gleichberechtigt ist und der Bundesrat eine gemeinsame Meinung vertritt, spielt es in der Schweiz gar keine so grosse Rolle, wer in der Landesregierung sitzt. Ausserdem gehört es in der schweizerischen direkten Demokratie dazu, dass bei wichtigen Entscheidungen das Volk mittels Volksabstimmungen ohnehin das letzte Wort hat.

Vorgezogene Wahlen vom National- und Ständerat sind in der Schweiz nur vorgesehen, wenn die gesamte Bundesverfassung neu erstellt wurde. Was seit 1848 nie passiert ist und in naher Zeit wohl auch weiterhin nicht passieren wird.

 

Wir sehen also, das Neuwahlen gewisse Unsicherheiten auslösen können, eine Regierung neu zusammenstellen können, festgefahrene Probleme lösen können oder schlichtweg dazu dienen können, die Macht des bisherigen Regierungspräsidenten zu festigen. Oft enden vorgezogene Wahlen aber darin, dass die Ausgangssituation genau gleich ist. Neuwahlen finden auf der ganzen Welt regelmässig statt, in diesem Sommer ist die Dichte, vor allem in Europa, aber relativ hoch. Ausserdem sehen wir, dass unser Politsystem sehr stabil ist, was dazu führt, dass unser ganzes Land als sehr stabil gilt. Schliesslich dürfen die Schweizer Stimmberechtigten schon häufig genug an die Urne, da wären jeden Sommer vorgezogene Wahlen schon fast eine Überlastung.


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