Weekly, KW06
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Guten Abend aus der rethink-Redaktion.
Heute mit Schweizer Besuch in Taiwan, neuen und fragwürdigen Klimazielen von Öl-Firmen und im Fokus: Das Erdbeben in der Türkei und Syrien und welche Auswirkungen es auf die Politik in beiden Ländern hat.
Zehntausende Tote nach Erdbeben.
Zwei heftige Erdbeben haben am frühen Montagmorgen kurz nacheinander den Südosten der Türkei und den Norden Syriens erschüttert. Gemäss dem Schweizerischen Erdbebendienst ereignete sich das erste Beben um 04:17 Uhr Ortszeit mit einer Magnitude von 7.8. Elf Minuten später folgte ein weiteres mit einer Stärke von 6.7. Am Nachmittag wurde ein weiteres schweres Beben mit Stärke 7.5 gemessen.
Bis am Samstagmorgen gab es gemäss dem türkischen Katastrophenschutz rund 1’900 Nachbeben, die jedoch deutlich schwächer waren. Die Epizentren lagen in der Nähe der türkischen Städte Gaziantep und Kahramanmaras. Die Erschütterungen waren bis in den Libanon und nach Zypern spürbar.
Insgesamt ist ein Umkreis von etwa 400 Kilometern betroffen, darunter türkische Städte wie Gaziantep und Adana. Auf der syrischen Seite sind unter anderem die Millionenstadt Aleppo und Idlib stark getroffen worden.
Die Zahl der bestätigten Todesopfer lag am Sonntagnachmittag bei mindestens 28’000 Toten. Die Katastrophe erschüttert die ganze Welt. Aus etlichen Ländern wurden finanzielle oder sachliche Hilfe angeboten.
Aktuelle Lage in der Türkei:
Die türkische Regierung rief für zehn Städte in der Region einen dreimonatigen Notstand aus. Dieser soll helfen, die Katastrophenhilfe besser zu koordinieren. Aus mehreren Ländern reisten noch am Montag erste Rettungstrupps an, auch die Schweiz organisierte den Einsatz der “Rettungskette Schweiz”. Rund 80 Einsatzkräfte und Teams mit Suchhunden beteiligten sich an Rettungsarbeiten in der Region Adana.
Auch am Wochenende werden immer wieder erfolgreiche Rettungen von Überlebenden gemeldet, obwohl die kritische Marke von 72-Stunden bereits lange überschritten ist. Rund drei Tage kann normalerweise ein Mensch ohne Wasser überleben.
In den betroffenen türkischen Regionen sind Hunderttausende Menschen obdachlos. Hinzu kommen tiefe Temperaturen und schlechtes Wetter, eine zerstörte Infrastruktur - es fehlt an Wasser- und Stromversorgung - und Lebensmittel werden knapp.
Am Samstag teilten Hilfsteams aus Österreich und Deutschland mit, dass sie ihre Einsätze aus Sicherheitsgründen unterbrechen. Es soll zu Tumulten zwischen Gruppierungen der Türkei gekommen sein. Ein österreichischer Militäroffizier sprach von Schüssen. Es sei festzustellen, dass die Trauer langsam der Wut weicht. Die Teams würden jedoch weiter vor Ort bleiben. Die Schweizer Rettungsteams haben nach Angaben der Nachrichtenagentur Keystone-SDA vorerst keine Sicherheitsbedenken. Die Lage werde aber beobachtet.
Aktuelle Lage in Syrien:
Hilfe für die Erdbeben-Opfer in Syrien gestaltet sich schwierig. Es mangelt an Ausrüstung für die Bergung und der Zugang zu bestimmten Gebieten ist erschwert. Bereits vor dem Erdbeben war die Infrastruktur in einem miserablen Zustand, Gebäude bereits durch den Bürgerkrieg beschädigt. Ausserdem geht das Katastrophengebiet über die Frontlinien hinweg, gewisse Regionen werden vom Assad-Regime kontrolliert, andere von den Rebellen.
Allein in Aleppo im von der Regierung kontrollierten Teil Nordwestsyriens haben nach ersten Schätzungen rund 200’000 Menschen das Dach über dem Kopf verloren.
Die meisten der existierenden Grenzübergänge zwischen der Türkei und Syrien wurden im Zuge des syrischen Bürgerkriegs für Hilfslieferungen der Vereinten Nationen geschlossen. Vor dem Erdbeben war nur ein einziger Grenzübergang geöffnet, über den Hilfsgüter ins Land gelangen konnten. Dieser war nach dem Beben für mehrere Tage geschlossen, nun aber wieder befahrbar. Die Türkei signalisierte im Laufe der Woche, dass weitere Übergänge informell offen seien.
Die Lage in Syrien ist für viele Hilfswerke riskant. Die Schweizer Rettungskette etwa werde nicht nach Syrien reisen, aus Gründen der Sicherheit, aber auch weil das Hilfegesuch der Türkei bereits am Montag bei der Schweiz eingetroffen sei, das von Syrien erst später und es keine Kapazität gebe, ein weiteres Team zu entsenden.
Nach Einschätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss die Hilfe für Syrien deutlich ausgeweitet werden. Die Toten- und Verletztenzahlen seien immens, was aber oft vernachlässigt werde, seien die vielen Obdachlosen, sagte die WHO-Vertreterin in Syrien. Der Nothilfekoordinator der WHO forderte mehr Hilfsmittel und kritisierte gleichzeitig auch, dass Syrien seit vielen Jahren grob vernachlässigt worden sei.
Der Bedarf für humanitäre Hilfe in Syrien sei im vergangenen Jahr noch nicht einmal zur Hälfte gedeckt worden. Am Samstag sind 35 Tonnen medizinische Ausrüstung der WHO in Aleppo eingetroffen, ein weiteres Flugzeug mit medizinischen Gütern soll in den nächsten zwei Tagen im Land eintreffen. In die von den Aufständischen kontrollierten Gebieten sollen zukünftig mehr Hilfskonvois aus der Türkei organisiert werden. Auch aus Regionen unter Regierungskontrolle sollen mehr Hilfsgüter in die Provinz Idlib gebracht werden. Darüber verhandelte am Samstag die WHO mit der syrischen Regierung.
Die politische Lage in der Türkei:
Die Türkei befindet sich eigentlich gerade im Wahlkampf. Am 14. Mai sollen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden. Präsident Recep Tayyip Erdogan verlegte die im Juni geplanten Wahlen mehrere Monate nach vorne. Nun kommen Stimmen auf, die angesichts der Erdbebenkatastrophe eine Wahl im Mai für unpassend halten.
Zudem kommt immer mehr Kritik an Erdogan und dessen Regierung auf. Hielt sich die Opposition anfangs der Woche noch zurück, kritisieren sie nun öffentlich, dass über Jahre hinweg zu wenig für den Erdbeben- und Katastrophenschutz getan wurde. Es gelten zwar seit dem letzten verheerenden Erdbeben von 1999 strengere Bauvorschriften. Diese würden aber nicht oder nur zu lasch umgesetzt. Auch die Erdbeben-Steuer, die von der Regierung seit 1999 eingetrieben wird, sei an falscher Stelle genutzt worden. Statt Gebäude, die nicht erdbebensicher waren, verstärken oder abreissen zu lassen, seien neue Strassen gebaut worden.
Der Regierung unter Recep Tayyip Erdogan und seiner Partei, der AKP, werden laut Umfragen grosse Verluste vorausgesagt.
Die politische Lage in Syrien:
2011 brach in Syrien nach Protesten gegen die Regierung ein Bürgerkrieg aus. Viele ausländische Staaten griffen ein, verhängten Sanktionen und unterstützten entweder das Assad-Regime oder die Rebellen. Innerhalb von rund zehn Jahren wurden mehr als 350’000 Menschen getötet und Millionen sind auf der Flucht. Die Regierung von Präsident Baschar al-Assad beherrscht inzwischen wieder rund zwei Drittel des zersplitterten Landes.
Während nun weitere tausende Menschen leiden, könnte Machthaber Assad aus dieser Krise politisches Kapital schlagen. Er könnte sich als der einzige Ansprechpartner und als Drehscheibe für die Hilfe in ganz Syrien, also auch in Gebieten, die nicht von der Regierung kontrolliert werden, anbieten. Damit würde seine Macht steigen.
Was wir tun können:
Hilfswerke benötigen zurzeit vor allem Geldspenden. Damit können in den betroffenen Regionen diese Dinge gekauft werden, die am dringendsten fehlen. Der Transport von Sachspenden aus Europa in die Katastrophenregionen gestaltet sich als schwierig und es ist nicht klar, was alles ankommt. Ausserdem würden massenweise Sachspenden die ins Land gebracht werden, die Märkte vor Ort finanziell gefährden.
Die Schweizer Zertifizierungsstelle Zewo hat auf ihrer Webseite Hilfswerke aufgeführt, bei denen überprüft wurde, dass die Spenden zweckbestimmt, wirksam und wirtschaftlich eingesetzt werden. Zu finden auf zewo.ch .
Schweizer Delegation in Taiwan.
Am Montag traf eine Schweizer Delegation in Taiwan auf dessen Präsidentin Tsai Ing-wen. Fünf Mitglieder des Schweizer Parlaments, darunter Parlamentarier:innen der SP, SVP und den Grünen, weilten bis Freitag auf der Insel vor China. Die Gruppe fordert eine engere Zusammenarbeit im Bildungsbereich. Ausserdem sollen die Wirtschaftsbeziehungen weiter ausgebaut werden.
Co-Präsident der Schweiz-Taiwan-Gruppe, der Zürcher SP-Nationalrat Fabian Molina, sagte gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA, dass Taiwan ein hoch innovatives Land sei und ein grosses Interesse bestehe, enger mit der Schweiz zusammenzuarbeiten.
Die chinesische Botschaft in Bern kritisierte den Besuch. Kontakte zu Taiwan sind für die Regierung in Peking ein rotes Tuch: Sie sieht die Insel als Teil der Volksrepublik China und will anderen Staaten offizielle Beziehungen verbieten.
EU-Aussengrenzen sollen aufgerüstet werden.
Die Kommission der Europäischen Union will die gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik in der EU verschärfen. Illegale Einreisen sollen von vornherein verhindert, beziehungsweise unattraktiver gemacht werden. In einem Pilotprojekt soll etwa die Grenze zwischen dem EU-Land Bulgarien und der Türkei mit Fahrzeugen, Kameras und Wachtürmen gesichert werden. Die von Ländern wie Österreich geforderte EU-Finanzierung von Zäunen entlang der EU-Aussengrenzen wird in der Abschlusserklärung nicht explizit genannt. Eine direkte Finanzierung von Zäunen und Mauern lehnen Länder wie Deutschland und Luxemburg ebenso wie die EU-Kommission ab.
Die Zahl der Asylanträge in der EU ist im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent auf 924’000 gestiegen.
Erdölkonzerne: Zuerst mal für sich schauen.
Die internationalen Erdölkonzerne erzielen derzeit so grosse Gewinne wie noch nie. Erst vergangene Woche hat die niederländische Shell einen Reingewinn von 40 Milliarden US-Dollar vermeldet. Am Dienstag gab die britische BP bekannt, dass sie im letzten Jahr 28 Milliarden Dollar verdiente, so viel wie noch nie in der Geschichte des Unternehmens.
Die Gewinne sind den Konzernen letztes Jahr fast in den Schoss gefallen. Die Nachfrage ist seit dem Ende der Corona-Massnahmen in vielen Ländern wieder deutlich angestiegen. Hinzu kam die Verknappung wegen des Krieges Russlands gegen die Ukraine. Pro Fass Öl und Kubikmeter Gas haben die Energiekonzerne plötzlich deutlich mehr verdient als noch im Jahr zuvor. Dafür können sie wenig bis gar nichts.
Die Konzerne haben jedoch in der Hand, was sie mit diesen Gewinnen anstellen. Dass die Dividende erhöht wird und damit ihren Anleger:innen auszahlen, ist normal. Gleichzeitig kaufen Shell, BP und Co. für Milliardenbeträge ihre eigenen Aktien aber auch zurück und treiben so den Kurs der verbleibenden Papiere in die Höhe.
Verboten ist das nicht, zeigt aber deutlich, wie die Prioritäten gesetzt werden. Denn gleichzeitig will etwa das Unternehmen Shell trotz doppelt so hohem Gewinn nicht mehr in Sonnen- und Windstromproduktion investieren als bisher. BP geht sogar noch einen Schritt weiter: Der britische Konzern baut die Erdöl- und Gasförderung weiter aus und fährt die Klimaziele bis 2030 zurück.
Schlussendlich scheinen die wirtschaftlichen Interessen also über den klimapolitischen zu stehen.
Das war’s von uns für diese Woche, vielen Dank für dein Vertrauen. Wir lesen uns nächsten Sonntag.
Redaktionsschluss: 16:30
Weekly 06/2023
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