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Weekly, KW 13

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Weekly am 02.04.2023 rethink

Guten Abend aus der rethink-Redaktion. 

Heute im Weekly:  Verschobene Justizreform in Israel, unwillkommene Migrant:innen in Tunesien und ein wahlträchtiger Sonntag. Sowohl in der Schweiz wie in Europa.


Israel: Justizreform wird verschoben.

Gestern demonstrierten bereits am 13. Samstag in Folge Hunderttausende Menschen in Israel gegen die geplante Justizreform. In Tel Aviv versammelten sich Medienberichten zufolge mehr als 170’000 Menschen. Gemäss den Organisator:innen sollen landesweit über 450’000 Menschen an rund 150 Orten auf die Strasse gegangen sein.

Die Proteste gegen die geplante Reform der Justiz in Israel gingen diese Woche weiter, obwohl Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Montag angekündigt hatte, das Vorhaben aufzuschieben und sich dafür in einem Dialog mit Kritiker:innen über die Reform austauschen zu wollen.

Hintergrund:
Benjamin Netanjahu möchte das oberste Gericht Israels schwächen. Die Regierung wirft dem höchsten Gericht übermässige Einmischung in politische Entscheidungen vor. Dem Knesset - dem israelischen Parlament - soll es künftig möglich sein, mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des höchsten Gerichts aufzuheben. Kritiker:innen sehen die Gewaltenteilung in Gefahr und warnen vor einer Staatskrise. 

Am vergangenen Wochenende hatte der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant überraschend die eigene Regierung zum Stopp der Reform aufgerufen. Galant warnte, dass das Vorhaben der Regierung zu einer Gefährdung der Sicherheitslage führen würde, da Dutzende Reservisten der Armee angekündigt hatten, nicht zu ihrem Dienst zu erscheinen, sollte die Reform angenommen werden. Letzten Sonntagabend wurde Verteidigungsminister Galant von Regierungspräsident Netanjahu entlassen, was erneut für Proteste sorgte. Am Montag bekamen die Demonstrierenden Verstärkung von den Gewerkschaften, die mit einem landesweiten Streik unter anderem den wichtigsten Flughafen des Landes lahmlegen und von Diplomat:innen, die in israelischen Konsulaten und Botschaften die Arbeit aussetzten. 

Am Montag dann gab Benjamin Netanjahu nach und setzte das Vorhaben bis auf weiteres aus. Noch unklar ist, ob er wirklich vorhat, in einen echten Dialog mit der Opposition zu treten, oder ob er bloss taktiert.

Was jetzt passiert:
Die Proteste in Israel sind in einer Sache bemerkenswert: Hier wird nicht gegen den Status quo oder gegen “das System” gekämpft, im Gegenteil. Die Demonstrierenden gehen auf die Strasse, um dieses System zu verteidigen. Bei jeder Kundgebung wurden Israel-Flaggen geschwungen und auch trotz grossen Menschenmengen sind keine grossflächigen Sachbeschädigungen oder Körperverletzungen bekannt. Die Demonstrierenden wurden von der Regierung und ihren Verbündeten oft als “Linke” denunziert. Doch zu den Kritiker:innen gehören auch ein Grossteil des Mittelstandes und etwa auch rechte Politiker:innen wie der Ex-Premierminister Naftali Bennett und Sicherheitspolitiker, die Netanjahu unmittelbar unterstellt sind oder waren. 

Die Gespräche sollen in den nächsten Tagen weitergehen. Sowohl die Opposition wie auch Staatspräsident Isaac Herzog haben einen Kompromissvorschlag eingereicht. Spielraum für Kompromisse wäre gross: Benny Gantz, einer der führenden Köpfe der Opposition sagte, mindestens 80 Prozent der israelischen Bürgerinnen und Bürger würden den Reforminhalten zu 80 Prozent zustimmen. Doch wenn Benjamin Netanjahu daran festhält, dass er die Möglichkeit haben will, Gerichtsentscheidungen mit dünner Parlamentsmehrheit zu kippen und die Richter für seinen eigenen Korruptionsprozess selbst zu ernennen, werden seine Bemühungen immer einen fahlen Geschmacks des Eigeninteresse behalten. Einen Teil der Reform, der seinen Platz auf dem Regierungssitz sicherer macht, hat Netanjahu übrigens bereits in trockenen Tüchern. Künftig können israelische Ministerpräsidenten nur noch aus gesundheitlichen Gründen aus dem Amt entfernt werden - und nicht, weil sie möglicherweise korrupt sind.

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Tunesien - Hetze gegen Migrant:innen.

Seit Beginn des Jahres 2023 trafen 12’000 Migrant:innen in Italien auf Land. Eine Mehrheit davon startete in Tunesien. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind das etwa neunmal so viele wie zur gleichen Zeit im Vorjahr. Die Boote der Geflüchteten sind zwar in Tunesien gestartet, in ihnen sassen hauptsächlich Menschen aus Ländern südlich der Sahara.

Hintergrund: 
Zum einen führt die wirtschaftlich instabile Lage in Tunesien für einen Anstieg von Ausreise und Flucht aus der nordafrikanischen Republik. Zum anderen ist es die Hetze des Präsidenten Kaïs Saïed gegen Migrant:innen aus dem Süden Afrikas. Ende Februar bezeichnete der Präsident Tunesiens vor laufender Kamera die in Tunesien lebenden Geflüchteten aus West- und Zentralafrika als eine Verschwörung gegen das Land. Gewisse Mächte wollten durch die vielen illegal in Tunesien lebenden Afrikaner den Islam und die arabische Identität Nordafrikas schaden, so Saïd weiter. Seither nehmen Berichte über Verhaftungen und rassistische Angriffe auf Menschen, die etwa von der Elfenbeinküste oder aus Kamerun stammen, zu. Saïds Kritiker:innen interpretieren seine Äusserungen als Versuch, von der dramatisch gesunkenen Zustimmung für seinen Staatsstreich im Sommer 2021 abzulenken. 

Noch vor wenigen Monaten waren Menschen aus Subsahara-Staaten mindestens geduldet in Tunesien. In Sfax, einer umtriebigen Handelsstadt rund 3 Autostunden von der Hauptstadt Tunis entfernt, lebten bis vor kurzem etwa 10’000 Migrant:innen. Auch wer länger als die für Touristen erlaubten drei Monate im Land blieb, fand im Handumdrehen Arbeit und eine Mietwohnung. Sfax leidet wegen der Emigration der tunesischen Jugend nach Europa an fehlenden Arbeitskräften. Mindestens die Hälfte der aus Mali, der Elfenbeinküste, Guinea-Bissau, dem Kongo und vielen anderen Ländern kommenden Menschen haben Sfax seitdem verlassen, schätzen Expert:innen der Bürgerinitiative Terre d’Asile, die sich um Geflüchtete kümmert. Viele seien wieder in die Heimat geflogen, mindestens 20 Prozent seien aber in die Boote nach Italien gestiegen. 

Mehr als 3’000 Migrant:innen rettete die italienische Küstenwache bereits am 25. März, als die Wellen auf dem Mittelmeer erstmals in diesem Jahr auch die Fahrt mit Schlauchbooten zuliessen. Nächste Landungen auf Lampedusa und Sizilien wurden dieses Wochenende erwartet, da die Temperaturen in Sfax am Freitag und Samstag deutlich anstiegen.


Was jetzt passiert:
Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell zeigte sich am Montag beunruhigt über die Situation in Tunesien und nannte sie “sehr, sehr gefährlich”. Er warnte vor neuen Migrationsströme nach Europa, sollte Tunesien wirtschaftlich oder sozial zusammenbrechen. Besonders Italien und Frankreich fordern in der Europäischen Union Unterstützung für das Land. Es müsse sehr kurzfristig gelingen, die Migrationsströme in Tunesien zu stoppen, sagte etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Als entscheidend für die Stabilität Tunesiens gelten auch Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Dieser plant ein Rettungsdarlehen in Höhe von zwei Milliarden Euro. Sollte dieses zustande kommen, besteht internationale Hoffnung, Ruhe und Stabilität ins hochverschuldete Land zu bringen.

Ein Sonntag im Zeichen des Wählens.

Genf:
Im Kanton Genf wurde heute eine neue Regierung gewählt. Für die sieben Sitze im Genfer Staatsrat sind 23 Kandidierende ins Rennen gestiegen, darunter vier amtierende Regierungsmitglieder. Es wird ein zweiter Wahlgang am 30. April nötig. 

Für Aufsehen sorgte der ehemalige Staatsrat Pierre Maudet, der im November vom Bundesgericht für schuldig gesprochen wurde, da er sich als Genfer Regierungspräsident auf Kosten des Königshauses in Abu Dhabi zusammen mit der Familie in die Arabischen Emirate fliegen liess. Maudet log über die Reise und harrte fast drei Jahre lang im Amt aus, bis er von seinen Kolleg:innen in der Regierung entmachtet wurde. 2021 trat er für seine eigene Wiederwahl an, heute versuchte er es erneut, mit einer neuen Partei. Maudet landet im Zwischenresultat bei Redaktionsschluss auf Platz fünf.

Im ebenfalls neu gewählten Genfer Parlament gewinnt seine Partei “La formation Libértés et justice social” (LJS) auf Anhieb zehn Sitze. Gemäss Hochrechnung müssen FDP und die Mitte Federn lassen. SVP und der rechtspopulistische MCG (Mouvement Citoyens Genevois) werden gestärkt.

Tessin:
Auch in der Sonnenstube Tessin wurde eine neue Regierung gewählt. Gemäss Hochrechnung des Senders RSI kann die SP ihren Sitz im Staatsrat verteidigen. Von den fünf Sitzen in der Kantonsregierung trat nur der SPler Manuele Beroli ab, auf ihn folgt nun gemäss Hochrechnung die Ständerätin Marina Carobbio. Wiedergewählt sind die bisherigen Regierungsmitglieder der Lega, FDP und Mitte. Offen ist noch, wer den fünften Sitz macht: der bisherige Claudio Zali der Lega oder der neu Kandidierende Piero Marchesi von der SVP.

Luzern:
Bei den Luzerner Gesamterneuerungswahlen sind grosse Veränderungen zu erwarten: In der Regierung treten von den fünf bisherigen lediglichen zwei zur Wiederwahl an. Acht Jahre lang war die Luzerner Regierung fest in Männerhand - damit ist nun Schluss. Mindestens eine Frau ist gewählt, beim zweiten Wahlgang könnte noch eine zweite dazustossen. 

Nach Auszählung aller 80 Gemeinden schaffen drei Kandidierende auf Anhieb den Sprung in die Regierung. Es sind dies die bisherigen Fabian Peter der FDP und Reto Wyss der Mitte, sowie dessen Parteikollegin Michaela Tschuor, die neu ins Gremium einzieht. Das Rennen um die letzten beiden Sitze geht am 14. Mail im zweiten Wahlgang weiter. In der Poleposition liegen Armin Hartmann (SVP) und Ylfete Fanaj (SP) 

Die Resultate des ebenfalls neugewählten Kantonsparlaments sollen bis spätestens 20 Uhr vorliegen.



Finnland:
Und auch in Finnland war heute das Stimmvolk angehalten, neue Volksvertreter:innen zu wählen. Gleich drei Parteien können sich Chancen darauf ausrechnen, stärkste Kraft zu werden: Die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Sanna Marin, die konservative Nationale Sammlungspartei um Petteri Orpo und die rechtspopulistische Die Finnen von Riika Purra. Um 20 Uhr wird ein erster Wahltrend erwartet, ein vorläufiges Endergebnis dürfte gegen Mitternacht in der Nacht zu Montag feststehen. Es wird ein äusserst knappes Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet. Umfragen sahen die drei Parteien vor dem Wahlsonntag dicht beieinander, mit minimalem Vorsprung für die Konservativen. Schon bei der letzten Parlamentswahl 2019 trennten die drei Parteien weniger als einen Prozentpunkt. 

Finnland wird in den kommenden Tagen offiziell 31. Mitglied des Militärbündnisses NATO. Finnland teilt mit Russland eine 1340 Kilometer lange Grenze. Im Wahlkampf hatte der Nato-Beitritt jedoch keine grosse Rolle gespielt, die Mehrheit des Volkes trägt den Entscheid mit. Stattdessen ging es vor allem um Inlandsthemen wie den Staatshaushalt.


Bulgarien:
Bereits zum fünften Mal innerhalb von zwei Jahren fanden in Bulgarien Parlamentswahlen statt. Rund sechs Millionen Stimmberechtigte waren in dem südöstlichen EU-Land aufgerufen, 240 Parlamentarier:innen zu bestimmen. Einen klaren Favorit gibt es nicht, die Menschen müssen erneut abstimmen, weil nach den Wahlen im Oktober 2022 alle Bemühungen gescheitert waren, eine neue Regierung zu bilden. Gemäss Wahlforscher:innen dürfte es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden pro-westlich auftretenden Lagern geben.  

Seit zwei Jahren kommt entweder gar keine Regierung zustande - oder nur für kurze Zeit. Bulgarien ist zerrissen zwischen der Nähe zu Russland und der Orientierung Richtung Westen. Erst recht seit dem Krieg in der Ukraine. 

Die Wahllokale schliessen um 20 Uhr bulgarischer Ortszeit. Verlässliche Zahlen sind in der Nacht nicht zu erwarten. Das amtliche Endergebnis soll binnen vier Tagen bekannt gegeben werden.


Das war’s von uns für diese Woche, vielen Dank für dein Vertrauen. Wir lesen uns nächsten Sonntag.


Redaktionsschluss: 17:15
Weekly 13/2023

Headerbild von Milad Fakurian auf Unsplash

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