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Weekly, KW 18

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Weekly am 07.05.2023 rethink

Guten Abend aus der rethink-Redaktion. 

Heute schauen wir auf die aktuelle Lage in der Ukraine und die vergangene Sondersession in Bundesbern. Im Fokus heute: Ein Bundesgerichtsurteil, das wegweisend für viele Kantone ist.

Gratis-öV nicht verfassungskonform.

Initiativen, die einen kostenlosen öffentlichen Verkehr in der Schweiz fordern, sind nicht verfassungskonform. Das halten die obersten Richter:innen am Bundesgericht in Lausanne fest. Konkret geht es um eine Volksinitiative aus dem Kanton Fribourg, die vom Kantonsparlament abgewiesen wurde. SP und Grüne sowie drei Privatpersonen haben gegen diesen Bescheid Beschwerde erhoben.

Hintergrund:
Die 2020 eingereichte kantonale Volksinitiative forderte vom Kanton Fribourg “kostenlose, qualitativ hochwertige und umweltfreundliche öffentliche Verkehrsmittel”. Diese Massnahme sollte durch die allgemeinen Steuern finanziert werden. Vor einem Jahr stellte der Grosse Rat des Kantons Fribourg die Ungültigkeit der Initiative fest, weil sie gegen übergeordnetes Recht verstosse. 

Das Bundesgericht stützt nun den Entscheid des Grossen Rates und weist die Beschwerde ab. Grund dafür ist der zweite Absatz von Artikel 81a der Bundesverfassung. Dieser besagt, dass die Nutzer:innen des öffentlichen Verkehrs zu einem angemessenen Teil die Kosten davon decken sollen. Mit diesem Artikel verfolgte der Bundesrat zwei gegensätzliche Ziele. Einerseits sollte Mobilität nicht zu billig sein, weil sonst die Nachfrage ungebremst steigen und zu immer höheren Investitionskosten führen würde, die das System schlussendlich ersticken könnten. Auf der anderen Seite sollte der öffentliche Verkehr auch nicht zu teuer sein, um das angestrebte Ziel einer Verlagerung der Reisenden von der Strasse auf die Schiene nicht zu gefährden. Die Suche nach diesem Gleichgewicht schliesse aus, so die Begründung des Bundesgerichts, dass Nutzer:innen im öffentlichen Verkehr überhaupt keine Kosten tragen.

Die Beschwerdeführer berufen sich ausserdem auf das in der Bundesverfassung festgehaltene Nachhaltigkeitsprinzip und auf das Klimaabkommen von Paris. Sie argumentierten, dass die Ungültigkeitserklärung der Initiative dem öffentlichen Interesse widerspreche. Dem folgt das Bundesgericht ebenfalls nicht. Vor allem, weil die Beschwerdeführer nicht aufgezeigt hätten, wie es dem Ziel der Nachhaltigkeit widersprechen soll, wenn die öV-Nutzer:innen angemessen an den Kosten beteiligt werden.

Was jetzt passiert:
Die Entscheidung des obersten Gerichts in der Schweiz hat auch Signalwirkung für andere Kantone. Bereits etliche Initiativen sind in letzter Zeit als ungültig erklärt worden. Etwa in Basel-Landschaft, Genf und in den Städten Zürich, Bern und Luzern. Alle begründeten den Entscheid mit dem Verstoss gegen das Bundesrecht, was mit dem vorliegenden Entscheid des Bundesgerichts nun bestätigt wurde. 

Um eine kostenlose Nutzung des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz zu ermöglichen, wird also eine Änderung der Bundesverfassung nötig. Und diese dürfte es im Parlament wie auch vor dem Volk schwierig haben. 

In Europa bieten circa 50 Städte und Gemeinden kostenlose öffentliche Verkehrsmittel an. Das wohl berühmteste Beispiel ist Luxemburg, das 2020 die Ticketpreise im öffentlichen Verkehr abschaffte. Im Land, das so gross wie der Kanton Tessin ist, herrschen Platzprobleme. Ein attraktiver öffentlicher Verkehr soll die Autofahrer:innen zum Umsteigen motivieren. Doch Gratis-öV reiche nicht aus, um die Menschen zum Umsteigen zu bewegen, sagte etwa Constance Carr, Stadtforscherin der Universität Luxemburg. Es sei wichtiger, dass in die Infrastruktur des öffentlichen Verkehrs investiert werde. Das Angebot müsse verlässlich, sicher und komfortabel sein.

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Die Lage in der Ukraine.

In der Region rund um Europas grösstem Atomkraftwerk in Saporischja intensivieren sich die Kämpfe. In der Stadt Nikopol nahe dem Atomkraftwerk schlugen nach Angaben ukrainischer Behörden vom Sonntag 30 russische Granaten ein. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA hatte sich am Samstag besorgt über die Lage rund um das AKW am Dnipro geäussert. IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi nannte die Lage "zunehmend unvorhersehbar und potenziell gefährlich”. Russland begann heute Sonntag mit der Evakuierung aus 18 Siedlungen in der Region Saporischja. Die Evakuierung hat die von Russland eingesetzte Verwaltung des annektierten Gebietes im Süden der Ukraine angesichts der erwarteten ukrainischen Gegenoffensive angeordnet. 

Am Mittwoch meldete Russland einen nächtlichen Angriff auf Putins Residenz im Kreml. Es seien zwei Drohnen abgefangen worden. Ein Sprecher des ukrainischen Präsidenten Selenski erklärte, man habe keine Informationen über eine derartige Aktion. Selenski selbst warf am Rande seines Besuchs in Finnland Russland vor, sich die Anschuldigungen ausgedacht zu haben. Die Ukraine würde weder Putin noch Moskau angreifen, sondern auf dem eigenen Territorium kämpfen und die ukrainischen Städte und Dörfer verteidigen, so Selenski in Helsinki. 

Expert:innen vom in Washington ansässigen Institut für Kriegsstudien hingegen sehen Indizien, dass der angebliche Angriff von Russland selbst inszeniert wurde. Der EU-Aussenbeauftrage Josep Borrell befürchtet, Russland könnte den Zwischenfall als Vorwand für weitere Attacken gegen die Ukraine nutzen. 

Am Freitag hatte der Chef der Wagner-Söldner, Jewgeni Prigoschin, angekündigt, seine Truppen aus der Ostukraine abzuziehen. Ihnen würde es an Munition fehlen und daran sei die Regierung in Moskau schuld. Als Ersatz sollten Truppen aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien in der hart umkämpften Stadt Bachmut stationiert werden. Am Sonntag teilte Wagner-Chef Prigoschin mit, dass ihm die notwendigen Waffen und Munition für eine Fortsetzung des Kampfes in Bachmut versprochen wurden. Ob er seine Truppen nach dem Versprechen des Kremls immer noch abziehen wird, ist unklar. 

Auch wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine droht Russland der grösste Mangel an Arbeitskräften seit Jahrzehnten. Das teilte das britische Verteidigungsministerium in London mit und zitierte auch Angaben der russischen Zentralbank. Allein 2022 hätten bis zu 1.3 Millionen Menschen das Land verlassen, darunter viele junge und gut ausgebildete Menschen aus hochwertigen Branchen wie der IT-Branche. Mobilmachung, eine historisch hohe Auswanderung sowie eine alternde und sinkende Bevölkerung würden das Angebot an Arbeitskräften begrenzen, heisst es weiter. 

Die Parlamentsdienste in Bundesbern teilten am Freitag mit, dass Wolodimir Selenski während der Sommersession im Juni zu National- und Ständerat sprechen wird. Er wird virtuell zugeschaltet und sich so direkt ans Parlament wenden können.

Sondersession zum Zweiten.

Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr trafen sich National- und Ständerat zu einer Sondersession. Nach der letzten Sondersitzung zur Übernahme der Credit Suisse, ging es diese Woche darum, die hohe Geschäftslast abzubauen. Besonders der Nationalrat hatte einige Beschlüsse zu verabschieden.

Munitionslager Mitholz:
Am Donnerstag stimmte der Nationalrat dem Milliardenkredit für die Räumung des früheren Munitionslager Mitholz zu. Das Lager muss aufgrund hoher Risiken und noch im Berg verbliebenem Sprengstoff geräumt werden. Die Sicherheitspolitische Kommission hatte das Geschäft Anfang Jahr zunächst für weitere Abklärungen sistiert und damit Verunsicherung ausgelöst (wir berichteten im Weekly KW10 darüber).

Der Bundesrat beantragt einen Kredit in der Höhe von 2.59 Milliarden Franken für die Arbeiten, einschliesslich Sicherheitsmargen wegen Unsicherheiten. Die Mehrheit des Nationalrates stellt sich hinter die Vorlage. Mit 180 zu 5 Stimmen bei 8 Enthaltungen stimmte die grosse Kammer dem Bundesbeschluss zu. 
Ein Teil der SVP wollte das Geschäft dennoch an den Bundesrat zurückweisen - mit dem Auftrag, eine neue Lagebeurteilung vorzunehmen. Verteidigungsministerin Viola Amherd gab zu bedenken, dass zusätzliche Abklärungen in Form von weiteren Sondiergrabungen bereits in Gang sind.

Sanktionen bei Verstoss gegen Lohngleichheit:
Geht es nach dem Nationalrat, sollen Arbeitgeber, die gegen den verfassungsmässigen Grundsatz der Lohngleichheit verstossen, künftig bestraft werden können. Die Mehrheit der grossen Kammer folgte dem Nationalrat Lorenz Hess (Mitte/BE), der den Vorstoss eingereicht hatte. Hess fasste die Situation bei den Löhnen mit den Worten “Der Zorn der Frauen und das Schweigen der Männer” zusammen. Es müsse nun Schluss sein mit Lippenbekenntnissen. Wer für gleiche Arbeit nicht den gleichen Lohn bezahle, soll dafür belangt werden.

Der Entscheid fiel mit 102 zu 84 Stimmen. Nur die SVP, FDP und wenige Mitte-Verterter:innen lehnten den Vorstoss ab.

Heisst nun auch der Ständerat den Vorstoss gut, muss der Bundesrat das Gleichstellungsgesetz ergänzen, indem er konkrete Sanktionen für die Nichteinhaltung der Lohngleichheit vorsieht und dazu die entsprechenden Kriterien definiert.

Boni-Verbot bei systemrelevanten Banken:
Systemrelevante Banken sollen keine Bonuszahlungen an ihre Spitzenkader auszahlen dürfen. Der Nationalrat hat dazu eine Motion der SP angenommen. Ausserdem sollen global tätige Grossbanken eine höhere Eigenkapitalquote aufweisen. Eingereicht hatte die Motionen die Luzerner SP-Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo. Den Vorstoss für das Boni-Verbot für das oberste Organ und an Geschäftsführung sowie das Risk Management hiess der Rat am Dienstag mit 101 zu 70 Stimmen und mit 22 Enthaltungen gut.

Die Motion, die für global tätige Grossbanken höhere Eigenkapitalquoten verlangt, unterstützte die grosse Kammer mit 92 zu 82 Stimmen bei 18 Enthaltungen. 

Birrer-Heimo hatte die Motionen im Juni 2021 eingereicht, über eineinhalb Jahre vor der erzwungenen Fusion der Credit Suisse mit der UBS und der Diskussion über die Notkredite von 109 Milliarden Franken. Die Motionen gehen nun an den Ständerat.


Versorgung mit Blutspenden soll gesetzlich geregelt werden:
Die Versorgung der Bevölkerung mit Blut soll auf gesetzlichem Weg abgesichert werden. Der Nationalrat hat deshalb das Heilmittelgesetz angepasst. Verankert werden soll auch, dass beim Spenden niemand diskriminiert wird.
Die Vorlage wurde am Mittwoch mit 181 zu 0 Stimmen angenommen.

Mit der Revision soll nun das Prinzip der Unentgeltlichkeit der Blutspende im Gesetz verankert werden. Die Finanzierung des Blutspendewesens soll eine private Aufgabe bleiben und durch den kostendeckenden Verkauf der Blutprodukte erfolgen. Ergänzend verankert die grosse Kammer im Heilmittelgesetz, dass beim Blutspenden niemand diskriminiert werden darf. Künftig soll bei den Ausschlusskriterien vom Blutspenden jede Form von Diskriminierung, zum Beispiel aufgrund der sexuellen Orientierung, verboten werden. Die Kriterien, um jemanden vom Spenden auszuschliessen, sollen auf dem individuellen Risikoverhalten und der Wissenschaft basieren. Aktuell sind Männer nur zur Blutspende zugelassen, wenn sie in den letzten zwölf Monaten keinen Sex mit Männern hatten.

Blutspende SRK Schweiz erarbeitete Ende 2022 zwei neue Lösungsvorschläge. Einer sieht die vollständige Gleichstellung gegenüber heterosexuellen Personen vor. Das zweite Szenario sieht eine Rückweisung von Männern vor, wenn sie innerhalb der letzten vier Monate gleichgeschlechtlichen Sexualkontakt hatten. Ob es zu einer Lockerung der Richtlinien kommt, entscheidet die Heilmittelbehörde Swissmedic.

Auch dieses Geschäft geht nun in den Ständerat. Noch 2017 hat sich dieser gegen eine Lockerung bei schwulen Blutspendern ausgesprochen.

Das war’s von uns für diese Woche, vielen Dank für dein Vertrauen. Wir lesen uns nächsten Sonntag.


Redaktionsschluss: 18:45
Weekly 18/2023

Headerbild von Milad Fakurian auf Unsplash

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