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Weekly, KW 45

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Weekly am 12.11.2023 rethink

Guten Abend aus der rethink-Redaktion.

Willkommen zurück aus einer weekly-freien Zeit. Heute geht es bei uns um den Krieg in Gaza, dem Inselstaat Tuvalu und im Fokus: Der Gerichtsentscheid aus Dielsdorf.

Schön bist Du heute mit dabei.

(Vorläufige) Freiheit für Brian Keller.

Der wohl bekannteste Häftling der Schweiz ist am Freitag unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen worden. Allerdings muss er die verbleibende Freiheitsstrafe möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt antreten. Vor Gericht stand Brian Keller, weil er während seiner Zeit in der Strafanstalt Pöschwies im zürcherischen Regensdorf Gefängnismitarbeitende und Mithäftlinge angegriffen haben soll. Der schwerwiegendste Vorfall: Keller soll eine Glasscherbe in Richtung eines Aufsehers geworfen haben. Dieser sei danach oberhalb des Auges verletzt worden. Tatbestand: versuchte schwere Körperverletzung.

Das Gericht spricht Keller von drei Vorwürfen frei. Darunter auch vom Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung. Er habe in der Pöschwies nicht eine grosse scharfkantige Glas­scherbe auf einen Aufseher geschleudert, sondern ein «Konglomerat von kleinen Sicherheitsglas­splittern» in Richtung einer Tür geworfen. Es handle sich deshalb nur um eine einfache Körper­verletzung.

Für die anderen Konflikte bestrafte ihn das Gericht zu zweieinhalb Jahren Freiheitsentzug, davon hat Keller bereits 370 Tage abgesessen.

Hintergrund:
Brian Keller geriet vor zehn Jahren durch einen SRF-Dokumentarfilm über den inzwischen verstorbenen Jugendanwalt Hansueli Gürber in die Öffentlichkeit. Darin ging es um Gürbers Vorzeigeprojekt: das sowohl ungewöhnliche wie auch erfolgreiche Sondersetting für den damaligen Jugendstraftäter Brian Keller mit dem Aliasnamen Carlos. Nach der Ausstrahlung begann eine regelrechte Empörungskampagne über diese Massnahme und deren Kosten, befeuert durch die Boulevardzeitung “Blick”. Seit mehr als zehn Jahren wird Brian Keller abwechslungsweise dämonisiert und wieder rehabilitiert. Er bewegt die Gemüter im ganzen Land, lässt niemanden kalt. Für die einen bleibt er ein gefährlicher und notorischer Straftäter, der sich endlich zusammenreissen und sich an die Gesetze halten soll - für die anderen zeigt sich an seinem Schicksal beispielhaft, was in der Strafjustiz alles schieflaufen kann. Und was die Folgen davon sind. Doch von wegen “notorischer Täter”: Als Erwachsener, also ab 18 Jahren, ist Brian Keller zweimal rechtskräftig verurteilt worden. Zusammen mit dem neuesten Urteil sind aktuell noch zwei Gerichtsentscheide nicht rechtskräftig entschieden.

Während der Haupt­verhandlung am Bezirks­gericht Dielsdorf hatten vor allem die Äusserungen des Sach­verständigen Jonas Weber für Aufsehen gesorgt. Der Berner Strafrechts­professor war vom Gericht als Zeuge befragt worden, ob das Haftregime von Brian Keller im Gefängnis Pöschwies menschenrechts­konform gewesen sei und ob Keller genügend medizinisch versorgt worden sei.

Weber äusserte sich so deutlich, wie es nur ging: «Es lag eine nach menschen­rechtlichen Vorgaben verbotene Langzeithaft vor», sagte er vor Gericht. Auch die medizinische Versorgung hielt er für ungenügend.

Weber ist mit dieser Einschätzung nicht der Einzige. Verschiedene nationale und internationale Gremien hatten die Haft­bedingungen im Gefängnis Pöschwies als rechtswidrig und unmenschlich kritisiert.

In der Pöschwies sass Brian Keller dreieinhalb Jahre lang in strikter Einzelhaft, war von Mitgefangenen isoliert, konnte nicht arbeiten, sich weiterbilden oder Sport treiben. Die Aufseher:innen kommunizierten nur durch die Gefängnisklappe mit ihm, auch medizinische Versorgungen erfolgten so. Besuche fanden hinter Trennscheiben statt und Hofgang hatte er lediglich allein und war stets an Händen und Füssen gefesselt. Ein von den Verteidiger in Auftrag gegebenes Gutachten hielt fest, dass ein solcher Reizentzug geeignet sei, die psychische Identität des Häftlings zu zerstören.

Und das geschah alleine nur in der Strafanstalt Pöschwies. Vorangegangen war eine lange Reihe unmenschlicher und rechtswidriger Behandlungen: Durch die Polizei, die ihn als 10-Jährigen fälschlicherweise mit Handschellen vor den Eltern abführte, durch Psychiater, die ihn als Teenager dreizehn Tage lang ununterbrochen an ein Bett fesselten und mit Medikamenten vollpumpten und zuletzt durch den Justizvollzug, der ihn im Gefängnis Pfäffikon zwei Wochen lang bis auf einen Poncho nackt am Boden schlafen liess.

Diese Vorgehen wurden bereits teilweise vom Bundesgericht kritisiert und hatten keinen direkten Einfluss auf das nun verkündete Urteil.

Das Gericht folgte am Mittwoch in weiten Teilen der Einschätzung des Experten Jonas Weber. Die Haftbedingungen, unter denen Brian Keller die Delikte in der Pöschwies begangen hatte, bezeichnete es bei der Urteilsverkündung als “konventionswidrig” und sprach von "menschenunwürdiger Behandlung”.

Was jetzt passiert:
Insgesamt sass der 28-jährige Keller siebeneinhalb Jahre ohne Unterbruch im Gefängnis. Am Freitag wurde er in die Freiheit entlassen, jedoch mit Auflagen: Das Gericht verbot Keller, sich dem Gefängnis Pöschwies zu nähern und sich in irgendeiner Art und Weise bei den Gefängnismitarbeitenden zu melden.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Staatsanwaltschaft hat Berufung angemeldet.

Seit knapp zwei Jahren sitzt Keller nicht mehr in der Pöschwies, sondern im Gefängnis Zürich, mit den gleichen Regeln wie alle anderen Häftlinge auch. Keine Isolation, keine besonderen Massnahmen. Im Führungsbericht heisse es laut dem Richter, Brian Keller beachte die jeweils gewünschten Umgangsformen. Er verhalte sich angemessen, sei höflich zu anderen Gefangenen. Er sei fähig, Absprachen einzuhalten, komme gut mit der Tagesstruktur zurecht und bewege sich auch in grösseren Gruppen angemessen. Dann schloss der Richter die Verhandlung. Das Gericht hoffe, dass Brian Keller nun in eine bessere Zukunft schreite.

Die Lage in Palästina und Israel.

Über einen Monat ist es her, seit die palästinensische Terrororganisation Hamas den jüdischen Staat Israel angriff und mehrere Hundert Geiseln nahm. Seither baute die israelische Armee den Widerstand gegen Hamas-Kämpfer im Gazastreifen massiv aus. Mittlerweile haben die israelischen Truppen den Gazastreifen vollständig in zwei Hälften geteilt und Gaza-Stadt, das Verwaltungszentrum, eingekreist. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sa gte gestern Samstag, dass die Hamas die Kontrolle über den nördlichen Teil des Gazastreifens verloren habe. Zivilst:innen soll es weiterhin möglich sein, in den Süden zu flüchten. Mehr als 1.5 Millionen Menschen haben das bereits getan. Doch auch dort sind Menschen in Gefahr, seit Israel seine Angriffe auf den südlichen Teil des Gazastreifens ausgeweitet hat.

Laut israelischem Militär werden mindestens 242 Geiseln in dem von der Hamas kontrollierten Küstenstreifen festgehalten (Stand 2. November 2023). Bisher hat die Hamas vier Frauen, darunter zwei US-Amerikanerinnen, freigelassen.

Die Hamas macht eine Waffenruhe mit Israel zur Bedingung für die Freilassung weiterer Geiseln. Eine Waffenruhe ist für Israel aber kein Thema. Das sei eine “Kapitulation vor der Barberei”, wie Ministerpräsident Netanjahu erklärte. Ausserdem sei er überzeugt, die Geiseln liessen sich mit der Bodenoffensive durch das israelische Militär befreien. Seit Donnerstag kommuniziert Israel aber täglich mehrstündige Feuerpausen und definierte Fluchtkorridore, damit die Zivilbevölkerung den Norden Gazas verlassen kann.

Die Hamas feuert immer wieder Raketen auf israelische Gebiete ab. Die radikal-islamische Gruppierung bezeichnet dies als Reaktion auf die zunehmende Zahl ziviler Opfer im Gazastreifen. Israel wird auch immer wieder durch die Shiitenmiliz Hisbollah aus dem Libanon angegriffen. Der israelische Verteidigungsminister Joav Galant sagte, dass sich an der Nordgrenze seines Landes “die Provokation in Aggression gewandelt” hätte.

Die Vereinten Nationen berichten gestützt auf die Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza von rund 11’000 Todesopfern und 27’000 verletzten Personen. 1.6 Millionen Menschen seien innerhalb des Landstreifens auf der Flucht.

Die israelischen Behörden melden rund 1’200 Todesopfern und 5’400 Verletzte. Israel hat offenbar die Zahl der getöteten Menschen durch den Hamas-Angriff vom 7. Oktober nach unten korrigiert. Die israelische Regierung hatte zuvor von 1’400 Todesopfern gesprochen.

Die Zahlen von beiden Konfliktparteien lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Im Gazastreifen sind wegen der schweren Bombardierungen, Zerstörungen und dem Mangel an medizinischem Material 20 der 36 Spitäler nicht mehr im Einsatz. Das berichtet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. Auch die noch funktionierenden Spitäler liefen nur im Notbetrieb, weil viele für eine normale Versorgung von Patient:innen nicht genügend Desinfektionsmittel und Anästhesiepräparate oder Strom hätten. Die noch funktionierenden Spitäler hätten teils doppelt so viele Patienten wie Betten, sagte eine WHO-Sprecherin.

Am Sonntagmorgen teilte die Organisation mit, sie habe die Kommunikation mit ihren Ansprechpartner:innen im Al-Shifa-Spital im Norden des Gazastreifens verloren. Der Klinikkomplex ist mit 700 Betten das wichtigste Spital im Gazastreifen. Palästinensischen Berichten zufolge war das Spital zuletzt mehrfach unter Beschuss geraten. Israels Armee dementierte, dass sie die Klinik angreife, und warf der Hamas vor, sich gezielt in der Nähe des Spitals zu positionieren. Die WHO rief am Sonntag zu einer sofortigen Waffenruhe im Gazastreifen auf.

Am Samstag trafen sich in der saudischen Hauptstadt Riad Staatschefs arabischer und weiterer islamischer Staaten zu einem ausserordentlichen Gipfeltreffen. Zum Auftakt des Treffens forderte der saudische Kronprinz und faktischer Herrscher Mohammed bin Salman einen sofortigen Waffenstillstand. Israel müsse seine Militäreinsätze sofort einstellen. Die Aussenminister:innen der sieben grössten Industriestaaten (G7-Gruppe) haben sich anfangs Woche in Japan getroffen und sich für “humanitäre Pausen” ausgesprochen. Die G7-Staaten riefen alle Parteien auf, humanitären Helfern Zugang zu gewähren und die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln, Wasser und Medizin zuzulassen. Die Minister:innen verurteilten unmissverständlich die Terroranschläge der Hamas vom 7. Oktober, wie auch die anhaltenden Raketenangriffe auf Israel. “Wir betonen das Recht Israels, sich und sein Volk im Einklang mit dem Völkerrecht zu verteidigen”, hiess es in der Abschlusserklärung aus Tokio.

Seit dem 21. Oktober sind laut UNO-Zahlen 914 Lastwagen mit humanitären Gütern in den Gazastreifen gelangt. Vor dem Kriegsausbruch betrug die Zahl rund 500 Lkw täglich.

Das UNO-Palästinenserhilfswerk UNRWA kritisiert, dass die Hilfslieferungen unzureichend seien.

Die Türkei will den Druck auf Israel erhöhen, um mehr Hilfslieferungen zu ermöglichen. Am Freitag nannte Recep Tayyip Erdogan ein Ziel von wieder 500 Lastwagen pro Tag. Ausserdem wolle er Israel dazu bringen, die Evakuierung von Verletzten und chronisch Kranken zu erlauben, sodass die Türkei diese behandeln kann. Zwischen dem 2. und 9. November konnten 131 verletzte Personen den Grenzübergang Rafah nach Ägypten passieren und in medizinische Versorgung gebracht werden, wie die Vereinten Nationen mitteilten.

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Klima-Asyl für Tuvalu.

Der Inselstaat Tuvalu im Südpazifik ist eines der ersten Länder, die wegen der Klimakrise voraussichtlich im Meer versinken werden. Auf den neun tuvalischen Atollen und Inseln leben etwa 11’000 Menschen. Schon 2050 dürften die niedrig gelegenen Inseln bei regulärem Hochwasser weitgehend überschwemmt und damit unbewohnbar sein.

Gleichzeitig trägt der Staat selbst kaum zur Klimakrise bei. In Deutschland etwa verursacht ein Mensch mehr als zehnmal so viele CO2-Emissionen wie ein Mensch in Tuvalu.

Nun hat der Staat ein Abkommen mit Australien unterzeichnet, das viele Medien als Klima-Asyl bezeichneten. Alle Bewohner:innen des pazifischen Landes dürfen in Australien arbeiten, studieren und leben. So verkündete es der australische Premierminister Anthony Albanese, zusammen mit seinem Amtskollegen von Tuvalu, Kausea Natano. Auf diese Weise können die Einwohner Tuvalus der Bedrohung der steigenden Meeresspiegel entkommen, die ihre Lebensführung und ihre Existenz gefährden. Anfänglich sollen 280 Menschen jährlich nach Australien kommen können, laut australischen Medienberichten soll Australien letztlich allen 11’200 Bürger:innen von Tuvalu Klima-Asyl anbieten.

Australien verpflichtet sich ausserdem, Tuvalu in Notfällen wie Naturkatastrophen, Pandemien und militärischen Konflikten zu helfen.

Premier Natano sieht die Umsiedlung nach Australien aber nur als die letzte Möglichkeit. Die Menschen würden nicht nur ihre Inseln, sondern auch ihre Identität verlieren. Das Land befürchtet, dass in 50 Jahren niemand mehr von Tuvalu wissen würde. Vor einem Jahr kündigte der tuvalische Aussenminister an, sein Land plane eine digitale Version von sich zu erstellen, die Inseln und Wahrzeichen nachzubilden und seine Geschichte und Kultur zu bewahren. Tuvalu solle die erste digitalisierte Nation im Metaverse werden.

Zuvor soll aber versucht werden, die Inseln, die im Durchschnitt nur zwei Meter über dem Meeresspiegel liegen, zu retten. Auf dem Atoll Funafuti schaufeln Bagger Sand auf. Damit soll verhindert werden, dass die Insel nach und nach vom Meer aufgefressen wird. Insgesamt sollen so 7,3 Hektar sicheres Land geschaffen werden. Doch ganz Tuvalu auf diese Weise zu sichern, kostet zu viel Geld und Zeit.

Vor den Folgen der Klimakrise flüchten laut dem Kinderhilfswerk UNICEF der Vereinten Nationen täglich 20’000 Minderjährige. Bis 2050 könnten 140 Millionen Menschen durch das sich ändernde Klima auf der Flucht sein. Besonders die kleinen Inselstaaten des Pazifiks sind gefährdet. Australien im Gegensatz ist einer der grössten Kohlenexporteure der Welt und zählt zu den grössten CO2-Verursachern. Daher empfinden viele Inselstaaten Australiens Schritt als notwendig und moralisch angemessen. Mit der Unterstützung Tuvalus verfolgt Australien aber auch strategische Interessen. Die Zusammenarbeit sichert dem Kontinent mehr Einfluss im Südpazifik, insbesondere gegenüber China.


Redaktionsschluss: 12.11.23 um 13:40
Weekly 45/2023

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