Krimi am Sonntag
Teil 1 – Sternenhimmel
Stell dir vor, du liegst auf einer Lichtung im Wald, hörst dem Blätterrauschen im Wind zu, über dir spielen Schwalben in der Luft, unter dir spürst du das frische, sattgrüne Gras.
Zwischen den Ästen hindurch dringen die letzten Sonnenstrahlen der langsam verschwindenden Sommersonne.
Stell dir vor, du hörst ein leichtes Rascheln hinter dir, drehst dich hastig um, siehst ihm in die Augen. Augen, die funkeln als wären 1000 Wasserfälle darin verborgen. Stell dir vor, wie du sein sanftes Gesicht betrachtest, seine Grübchen in der Wange, seine Mundwinkel, die sich zu einem Lächeln zuspitzen.
Stell dir vor, wie du aufspringst und mit dir 100 Schmetterlinge in deinem Bauch gleich mit.
Wie du dich doch freust ihn endlich zu sehen.
Leichtfüssig, wie ein Ballettänzer, schwebt er auf dich zu und nimmt dich in seine starken Arme. Sein Duft, leicht und luftig wie eine Blumenwiese, raubt dir den Verstand.
Zusammen, glücklich wie am ersten Tag, legt ihr euch auf die Lichtung, mit der Abendsonne im Gesicht.
Stell dir vor, wie ihr gemeinsam über eure Geschichten lacht, aber auch weint. Wie ihr diskutiert, aber euch doch nicht ernst nehmen könnt. Stell dir vor, wie er dich in Arm nimmt und dich wärmt. Wie er dir seine Jacke umlegt und dir dabei leicht in den Nacken haucht. Stell dir vor, wie er dich vom Boden aufzieht und ihr euch auf den Weg macht.
Zusammen, zu ihm.
Stell dir vor, er, der dich so fest liebt.
Er ist es.
Der Grund warum du tot bist.
Dein Mörder.
Teil 2 – Frostiger Morgen
Nebel wabert durch das dicke Unterholz rund um die Lichtung im Wald. Der Herbstmorgen ist kalt. Unterwartet kalt für die Anwesenden. Neben der Lichtung stehen bereits zwei schwarze Limousinen, als sich auf dem nahen Kiesweg ein weiterer Wagen ankündigt.
Der Mercedes Kastenwagen stoppt mit einem Quietschen, die Beifahrertüre öffnet sich langsam, zwei Füsse in hochhakigen Stiefeletten treffen auf dem Waldboden auf.
Die Frau, mit schwarzen, schulterlangen Haaren, geht mit energischem Blick zum Kofferraum und zieht eine schwarzen,
abgenutzten Aktenkoffer ins Freie. Die bereits anwesenden Personen und die Neue begrüssen sich nur mit einem kalten Nicken. Jeder weiss, was zu tun ist.
In der Mitte der Lichtung, auf taufrsichem, heruntergetretenem Gras, liegt etwas. Die Frau bückt sich, zieht Handschuhe an, sieht sich das Etwas genauer an. Aschfahl, leichte Tautropfen auf dem Gesicht und Haut wie aus Wachs. Die Leiche liegt noch nicht lange da, teilt die Frau den anwesenden Personen mit.
Ihr Blick gleitet nun vom Kopf bis zu den Füssen der Leiche. Sie betrachtet die blonden, strähnigen Haare, die langen, schlaksigen Arme, die in feinen, rot lackierten Fingernägel enden. Passend zur Hautfarbe trägt die Leiche ein Gewand, das so weiss ist, wie eine Friedenstaube.
Die Frau beendet ihre Arbeit, steht auf, zieht sich die Handschuhe aus und schnürt sich ihren schwarzen, langen Wintermantel enger um die Hüfte.
"Ich bin fertig", sagt sie, als sie auf die schweigende Gruppe am Rande der Lichtung trifft. Ein knappes Danke ertönt zurück, die Frau bewegt sich Richtung Auto, als sie den Koffer verstaut,
startet der Motor, sie steigt ein und der Mercedes verschwindet im Nebel.
Aus den Münder der anwesenden Personen steigt warme Luft auf, als jemand leise in die schweigende Runde fragt: "Wieso trägt er eigentlich rote Fingernägel?"
Teil 3 – Sonnenuntergang
Die Gardinen schwingen vor dem offenen Fenster hin und her und lassen die warmen Sonnenstrahlen hinein.
Es muss wohl bereits Mittag sein, als du deine Augen kurz öffnest und wegem dem starken
Sonnenlicht gleich wieder zukneifst. Du vergräbst deinen Kopf in diese wahnsinnig gut nach Waschmittel riechenden Kissen und hörst nicht, wie er das Zimmer betritt.
Er, den du nach Hause begleitest hast, dessen Bett du gerade benutzt. Er, der dich so süss anlächelt. Er, der dir gerade
Pfannkuchen gemacht hat. Stell dir vor, wie ihr gemeinsam frühstückt, die Sonne geniesst und den heutigen Tag plant.
Stell dir vor, wie ihr in die Stadt geht, durch die Gassen bummelt und euch endlich traut, die Hand zu geben. Stell dir vor, wie ihr glücklich seid und du nie mehr etwas anderes erleben willst.
Als gegen Abend die Sonnenstrahlen flacher auf die Stadt scheinen, sich die Bars und Restaurants mit Menschen füllen und die sommerliche Hitze langsam abklingt, macht ihr euch auf den Weg nach Hause.
Wieder geht ihr zu ihm, wo wolltet ihr sonst auch hin, verbringt den Abend zusammen mit seiner Familie.
Nach dem Abendessen beobachtet ihr von seiner Terrasse aus den Sonnenuntergang und schlürft an einem erfrischenden Bier. Stell dir vor, wie du den Kopf in den Nacken legst, den Himmel über dir betrachtest und in deine Gedanken versinkst. Stell dir vor, du fühlst dich genau dort. Im Himmel. Einem Platz,
von dem du bis jetzt nur träumen konntest. Ein Geflohener, aus der dunklen und unwirtlichen Hölle, gelandet
in diesem Paradies. In einer Welt voller Sonnenschein, Nächstenliebe und Verständnis.
Stell dir vor, wie du langsam in seinen Armen einschläfst, den Kopf voller Gedanken.
Stell dir vor, wie du von früher träumst, von den Zeiten voller Kälte, Hass und Dunkelheit. Stell dir vor, wie froh du bist, dass diese Zeiten vorbei sind.
Diese Zeiten, bei dir zu Hause.
Teil 4 – Kalte Herzen
Es wird ruhig auf der Waldlichtung, als sich der Kastenwagen entfernt hat.
Zurück bleiben die vier Personen, alle teuer und trotzdem schlicht gekleidet. Der Älteste, offensichtlich der Vater, ein grosser, schlanker Mann, mit grauem Haar und kräftigen
Wangenmuskeln. Wenn überhaupt, hat sich dieses Gesicht nicht häufig zu einem Lächeln verzogen.
Neben ihm, mit dunkler Hochsteckfrisur und gleicher steifer Miene, steht seine Frau. Die Beiden werden flankiert von ihren Kindern: Eine junge Frau, wohl gegen 30, mit braunen Rehaugen, wie alle in ihrer Familie, teurer Lederjacke und fast mitleidigem Ausdruck auf ihren Gesichtszügen. Und ihr Bruder, jünger als sie, jedoch grösser und schlaksiger. Mit seinem blauen Polo Hemd unter dem langen Mantel fällt auch er nicht aus der noblen Kleiderordnung der Familie. In seinem Blick liegt ein kalter, fast abschätzender Blick. Er ist der Erste, der seinen Mund öffnet und etwas sagt: "Hätte er doch einfach aufgegeben und uns in Ruhe gelassen."
Sein Vater schüttelt den Kopf, schnaubt aus der Nase und erwidert: "Er wusste, auf was er sich einlässt, wenn er solch ein kaputtes und falsches Leben lebt und uns damit schadet. Es ist nun das Beste für uns alle."
Die vier kehren zu ihren Wagen zurück, verlassen die Lichtung, mit dem Wissen, dass die nette Damen im Mercedes Kastenwagen alle Fingerabdrücke auf dem Körper von Emanuel, ihrem Bruder und Sohn, entfernt hatte.
Die zwei Wagen fahren aus dem Wald hinaus, zu einem Gutshof, mit grossem, weissem Wohnhaus, weitläufigen Rasenflächen und Pferdestallungen. In einem dieser Ställe ist eine Box mit Holzplanken abgesperrt, nur eine kleine Öffnung, wohl um Nahrung durchzureichen, ist in Bodennähe vorhanden. Eine Tür oder ähnliches fehlt. Das Schloss, das die Klappe vor der Öffnung verschlossen hat, liegt neben der Box. Die Klappe hängt aus den Angeln gerissen daneben.
Im dunklen und kalten Innern liegt am Boden Stroh und in der Ecke steht ein Topf, der nach menschlichen Exkrementen riecht.
Ein Ort, wie die Hölle.
Teil 5 – Familie
Du wachst auf, erinnerst dich an Zeiten zurück, die du nie vergessen wirst.
Erinnerungen, die tief in dein Herz und deine Seele eingebrannt sind.
Bilder, die du nie aus deinen Augen verbannen wirst.
Zum Glück ist er da. Dein Freund.
Er hat dich gerettet. Als du kilometerweit ranntest, mitten ins Nirgendwo.
Als du nicht wusstest wie weiter. Als du solche Angst hattest.
Er war für dich da, hat dich aufgefangen, dir Wärme, Essen und ein Dach über dem Kopf gegeben. Und das Wichtigste: Er hat dich nie gedrängt, zu erzählen.
Erzählen, was passiert ist. Von wo du kommst, wer du bist.
Denn das alles weisst du selber auch nicht.
Gestern, als du unter der Dusche standest, als das Wasser durch deine blonden Haare floss, erinnerteste du dich zurück. An die Zeit, als alles noch in Ordnung war.
Als noch niemand von deinem Geheimnis wusste, als du noch akzeptiert wurdest.
Danach war alles anders. Du erinnerst dich, wie dein Vater schrie, dich mit voller Wucht auf den Boden schlug und dir die Hölle versprach. Die Hölle, in die du gesteckt wurdest.
Während draussen das Leben weiterging, warst du im Stall eingesperrt.
Warum? Weil deine Familie nicht mit der Wahrheit klarkommt.
Teil 6 – Familie
Wie Emanuel fliehen konnte, war niemanden klar. Was jedoch jeder wusste: Er ist eine Gefahr für die Familie, die Ehre und die Firma. Zusammen wurde der rücksichtlose Plan gefasst, wie dieses Problem aus der Welt geschaffen werden kann. Sein Vater, ein konservativer Christ, hatte die grössten Probleme mit der Homosexualität seines Sohnes.
Über Jahre hinweg lebte er in der Hoffnung, es ihm austreiben zu können, ihn überzeugen zu können, doch eine Freundin zu haben. Ihn umzupolen.
Doch jetzt, wo Emanuel in die Freiheit geflohen ist, sieht er keine Möglichkeit mehr für ihn.
Dem angeheuerten Privatdetektiv fiel es nicht schwer, den jungen Mann ausfindig zu machen und fand auch schnell dessen Liebhaber. Als dieser an einem bereits kalten Frühherbstmorgen einkaufen ging, sprach ihn der Privatdetektiv an.
Mit einer unglaublich überzeugenden Rede händigte der Detektiv dem Lover von Emanuel zwei Kapseln aus. Was diese genau bewirken würden und was es ist, verstand dieser nicht.
Jedoch würden sie das Leben von geschädigten Personen angeblich enorm vereinfachen. Am Besten kehre man mit dieser Person, welche noch immer unter den Geschehnissen der Vergangenheit leidet, an den Ort zurück, an dem man sich das erste Mal getroffen hat. Dort werde das aus Tigerknochen gewonnene Mittel seine Wirkung entfalten.
Auf dem Weg nach Hause zweifelte der junge Mann an der Geschichte, jedoch wollte er nur das Beste für seinen Freund. Wenn er ihm so helfen könnte...
Es ist ein kalter Herbstmorgen auf der Lichtung im Wald. In der Mitte, auf dem taufrischen, sattgrünen Gras, liegt, völlig entkleidet und mit strähnigen Haaren, Emanuel.
Die Überreste, roter Nagellack auf den Fingern, der letzten ausgelassenen Drag-Party sind noch gut ersichtlich.
Das verzerrte Gesicht erzählt die tragische Geschichte der Nacht zuvor. Vom Trinkspiel, bei dem Emanuel genug Alkohol in die Blutbahnen erhielt, um von seinem Freund überredet zu werden, zur nahen Waldkichtung zu gehen.
In den Augen des toten, jungen Mannes steht die Verzweiflung.
Verzweiflung, als sich das Gift wie Feuer in seinem Körper ausbreitete und er sich vor Hitze die Kleider vom Körper riss. Doch es war vorbei.
Im gleichen Wald, nur einige hundert Meter von der Lichtung entfernt, liegt am Boden eines tiefen Abhanges eine Gestalt, deren Augen funkeln, als wären 1000 Wasserfälle darin verborgen. Die Leiche des Mannes, im gleichen Alter wie Emanuel, verbreitet durch sein Parfum ein Geruch, der so leicht und luftig wie eine Blumenwiese ist.
Informationsbroschüre für Eltern von homosexueller Kinder: Link
Organisation Freundinnen, Freunde, Eltern von Lesben und Schwulen: www.fels-eltern.ch
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