Belarus hat genug

Die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja. Sie reiste nach dem Wahlabend mit ihrer Familie nach Litauen in Sicherheit.

Die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja. Sie reiste nach dem Wahlabend mit ihrer Familie nach Litauen in Sicherheit.

Nach einer Wahl, die mit 80 Prozent der Stimmen gewonnen wurde, auf die Strasse gehen und gegen den Wahlsieger demonstrieren? Tausende Belarussinnen machen seit einer Woche genau das, und wohl auch zu Recht.

Vor einer Woche war Wahlsonntag in Weissrussland. Die Präsidentschaftswahlen sind allerdings ein heisses Feuer. Seit 1994 sitzt Alexander Lukaschenko als Präsident an der Macht. Und diese Macht will er sich sichern.

Dabei verlässt er sich bekanntermassen nicht nur auf die Stimmen der Wählerinnen. Sondern lässt ernst zu nehmende Konkurrenten vorsichtshalber im Vorfeld ausschalten und auf der Strasse seinen Sicherheitsapparat zur Zähmung aufmüpfiger BürgerInnen walten.

2020 haben drei Belarussen eine Kandidatur angekündigt. Keiner davon ist jedoch letzten Sonntag tatsächlich angetreten. Gegen Sergei Tichanowsky wurde Administrativhaft angeordnet. Er soll zu Gewalt gegen Polizeiangehörigen und “Massenunruhen” aufgerufen haben. Mittlerweile ist er in Untersuchungshaft. Die Nummer Zwei: Wiktor Babariko. Langjähriger Leiter der Belgazprombank, eines Ablegers des russischen Gazprom-Konzerns. Wegen Steuerhinterziehung sitzt auch er in U-Haft.
Und der dritte im Bunde: Waleri Zepkalo. Er steht für politischen Widerstand aus dem System heraus: 1994 gehörte er dem Team an, das Lukaschenko in den Präsidentensessel hievte, später forcierte er die Entwicklung der IT-Branche des Landes. Statt einer Wahlzulassung erhielt er deutliche Hinweise, dass ein Verbleib im Land für ihn gefährlich werden könnte, weshalb er sich prompt nach Russland absetzte.

Also sah alles nach einer klaren Wahl für Lukaschenko aus?
Nicht ganz. Statt den drei Kandidaten registrierte sich Swetlana Tichanowskaja als offizielle Präsidentschaftskandidatin. Sie sprang für ihren Mann Sergei Tichanowsky ein.

Präsident Lukaschenko wurde in letzter Zeit nicht müde zu behaupten, sein Job sei nichts für eine Frau, «die Arme» würde «unter der Last zusammenbrechen». Und in der Verfassung würde er als Voraussetzung für das Amt gerne einen geleisteten Armeedienst verankern. Solche Äusserungen stossen selbst im konservativen Weissrussland auf Kritik – bei der weiblichen Bevölkerung sowieso.

Sollte Lukaschenko geglaubt haben, mit einer Frau als stärkster Konkurrentin habe er leichtes Spiel, irrte er. Vor fünf Jahren erhielt Tatjana Korotkewitsch als Präsidentschaftskandidatin der Opposition zwar lediglich 4,4 Prozent der Stimmen, diesmal sah die Sache anders aus. Tichanowskaja und die Wahlteams von Babariko und Zepkalo – unter Leitung von Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo, schlossen sich zusammen und gehen im Wahlkampf nun koordiniert vor. Für diese Übereinkunft benötigten sie gerade einmal fünfzehn Minuten. Geeinigt haben sich die drei Frauen auf ein simples Fünfpunkteprogramm: Sie rufen zur geeinten Stimmabgabe auf und versprechen die Freilassung politischer Häftlinge, um die ausgeschlossenen Kandidaten anschliessend bei erneuten, freien Wahlen gegeneinander antreten zu lassen. Zudem klären sie über Optionen auf, wie sich die eigene Stimme vor Manipulation schützen lässt, und mobilisieren zur aktiven Wahlbeobachtung.

Es kam, wie alle dachten, aber sich niemand erhoffte.

Am Sonntag, dem 9. August 2020 wurde wieder einmal klar: Demokratie ist nicht in Belarus. Nach der Wahl verkündete Lukaschenko, dass er mit 80 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde. Eine Zahl, die für viele Beobachterinnen und Bürger ein Hohn war. Für die Wahl waren keine unabhängigen OSZE-Wahlbeobachterinnen zugelassen. Eine Manipulation — etwa, dass vielen Menschen der Zugang zu Wahllokalen verhindert wurde — und Beschönigung kann nicht ausgeschlossen werden.

Noch am selben Abend begannen die Proteste, hauptsächlich in der Hauptstadt Minsk, mittlerweile aber im ganzen Land. Zigtausende Menschen gehen auf die Strassen und demonstrieren gegen Alexander Lukaschenko, die Wahlmanipulation und für eine gerechte und funktionierende Demokratie.
Die Polizei geht rigoros gegen Demonstrierende vor, Tränengas und Gummischrott werden eingesetzt. Teilweise sollen die Polizistinnen auch mit scharfer Munition auf Demonstrierende geschossen haben.

Die deutsche Wochenzeitung “Die Zeit” führte ein Interview mit dem italienischen Extremsportler Claudio Locatelli, der seit Anfang August in Minsk war und für 60 Stunden festgenommen wurde, weil er über die Prosteste berichten wollte. Die Aussagen von Locatelli werden gemäss der “Zeit” von anderen Journalisten wie dem Russen Anton Starkow bestätigt, der mit ihm in derselben Zelle sass.

Der Italiener Claudio Locatelli wurde nach 60 Stunden aus dem Gefängnis entlassen. “Die Polizisten gaben mir meinen Rucksack zurück, meine Uhr, mein kaputtes Diensthandy. Sie baten mich, zu überprüfen, ob alles wirklich vollständig sei. Ihr Verhalten hatte sich komplett geändert. Zum ersten Mal musste ich den Kopf nicht senken. Dann holte mich der italienische Vize-Botschafter ab. Wir rannten regelrecht ins Diplomatenauto.”
Der Schweizer Sportler, der mit Locatelli in der gleichen Zelle inhaftiert war, kam am Freitag frei.

Mit den Demonstrierenden verbündeten sich auch Mitarbeiter von staatlichen Konzernen, die offen zugaben, dass sie nicht für Alexander Lukaschenko stimmten. Auf den Strassen versuchten indes die Belarussen mit Autokorsos die Bewegung der Polizei einzuschränken. Das Internet wurde zu Beginn der Woche praktisch komplett stillgelegt, wohl um zu verhindern, dass zu viele Bilder und Videos an die Öffentlichkeit gelangen.

Und auch Akkreditierungen für ausländische Journalisten werden nicht ausgestellt. Der SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky wurde wegen der, Zitat: “schwierigen epidemiologischen Lage”, keine Erlaubnis erteilt, um aus Belarus berichten zu können.

Seit einer Woche dauern die meist friedlichen Prosteste an. Seit einer Woche geht die Polizei mit aller Härte gegen die Landsleute vor. Lukaschenko schreckt vor keiner Gewalt zurück. Ob er das Militär einsetzen wird, ist nur eine Frage der Zeit. Aber langsam scheint er mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Am Samstag führte er ein längeres Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der Inhalt des Gespräches ist nicht bekannt. Ob Lukaschenko Putin um militärische Unterstützung gefragt hatte, wie er vor Beginn angedeutet hatte, ist noch weniger bekannt. Expertinnen gehen jedoch davon aus, dass Putin keine Notwendigkeit sieht, Alexander Lukaschenko zu stützen. Zum einen hatte der ihn in letzter Zeit mehr als einmal brüskiert, zum anderen ist Belarus wirtschaftlich extrem von Russland abhängig, das ändert sich auch mit einem Machtwechsel in Minsk nicht.

Unterdessen sind sich die meisten Landsleute einig. Bis sich überhaupt etwas ändert, muss wohl viel Blut fliessen. Und das scheint es den Belarussinnen wert zu sein. Lange genug machte Lukaschenko, was er wollte, lange genug krallte er sich die Macht an sich. Für die Menschen in Weissrussland ist die Zeit reif für einen Wechsel. Auch wenn sie dafür kämpfen müssen.


©rethink-blog 2020

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Oli Wingeier

Oli, findet alles Neue spannend und erstmal gut, ausser die neuen Rechten. Duscht jeden Morgen zu lange, besitzt mehr als tausend Notizbücher und zu viele Gedanken (oder umgekehrt).
Für rethink wühlt er sich jede Woche durch etliche Nachrichten und kreiert dann daraus eine Zusammenfassung der wichtigsten News. Zu lesen und hören als “Weekly”

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Nachrichten, die gerade untergehen, Teil 2

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Huch, das ging aber schnell?!