Ist Oben das neue Unten?
Bus, Strassenbahn, Zug, Schiff. In den Metropolen dieser Welt wurden schon verschiedene Mittel eingesetzt, um grosse Menschenmenge durch die Stadt zu befördern. Doch Bolivien macht uns gerade vor, dass wir eine Transportart bis jetzt vergessen haben.
Bolivien hatte ein Problem. Ein Verkehrsproblem. Die beiden Nachbarstädte La Paz und El Alto auf rund 4000 Meter über Meer sind in den letzten Jahren immer näher zusammengerückt. Immer mehr Häuser wurden gebaut, die Strassen immer enger und der Verkehr immer dichter. Selbst die Hauptstrassen, die die beiden Stadtzentren verbinden, sind nicht mehr als enge zweispurige Strecken. Der Kollaps auf der Strasse war angerichtet. Lösungen waren lange auch nicht in Sicht. Busse und Strassenbahnen hätten in den ohnehin engen Städten kein Platz oder das Niederstampfen ganzer Häuserreihen verursacht. Eine Untergrundbahn war zum Einen sehr kostspielig, zum Anderen liegt zwischen der Regierungsstadt La Paz und dem ärmeren El Alto eine Höhendifferenz von rund 400 Höhenmetern.
Hilfreiche Technik aus Österreich
Einen Ausweg lieferte die Firma Doppelmayr. Diese ist weltweit bekannt für ihre Produkte, auch in der Schweiz. Jedoch nicht in den Städten, sondern in den Bergregionen. Während Seilbahnen hierzulande Skifahrer und sonstige Sportler auf den Berg transportieren, sollen sie in Bolivien dazu dienen, Pendlerströmen gerecht zu werden? Ja, und es funktioniert.
2014 wurde von Doppelmayr die erste Linie mit einer Länge von rund zwei Kilometern in Betrieb genommen. Doch es blieb nicht bei einer Linie. Die “Mi Teleférico”, wie die staatliche Betreiberfirma der Gondeln heisst, sollte zum dichtesten städtischen Seilbahnnetz werden.
Im März 2019 ging die zehnte und letzte Linie in Betrieb und gehört damit zum 33 Kilometer langen Seilbahnnetz. Rund 3’000 Passagiere können pro Stunde zwischen zwei Stationen transportiert werden. Während den Hauptverkehrszeiten, wenn viele Bewohner aus El Alto zu ihrer Arbeit in La Paz “gondeln”, werden die Kabinen ein bisschen enger aufs Seil gepackt und dieses läuft schneller. Dadurch wird die Kapazität auf circa 4’000 Personen pro Stunde erhöht.
Akzeptanz der Bevölkerung
Mit der Seilbahn kam ein völlig neues Transportmittel in die Andenstädte. Während viele Menschen zu Beginn vorsichtig waren und auch ein wenig Angst vor einem Absturz hatten, nutzen immer mehr Menschen die «Teleférico». Täglich werden rund 300'000 Menschen zwischen den 31 Stationen befördert. Tendenz steigend.
Denn die Vorteile liegen auf der Hand. Die Bahn benötigt vom Zentrum in El Alto nach La Paz rund 10 Minuten, auf der Strasse muss mit rund einer Stunde gerechnet werden.
Seil- statt U-Bahn auch bald in Europa?
Mit Blick auf den Erfolg des «Mi Teléferico» könnte man nun meinen, Gondelbahnen werden in Zukunft auch hierzulande aus dem Boden spriessen. Doch die Politik und Verkehrsplaner sind zurückhaltend. Zu vertraut sind die bestehenden Mittel um Menschen zu transportieren, zu gross die Angst, etwas zu bauen, was nicht funktioniert. Obwohl bereits einige Bahnen in Europa existieren. Zum Beispiel verbindet seit den Olympischen Spielen 2012 in London eine Seilbahn die Greenwich Halbinsel mit den Royal Docks. Diese ist rund ein Kilometer lang und kann pro Stunde 2’500 Personen über die Themse transportieren. Die «Emirates Air Line» wurde dadurch weltweit als erste Seilbahn Teil des städtischen öffentlichen Verkehrsnetz. In München sind derzeit erste Planungen im Gange, die ebenfalls eine Seilbahn im städtischen Bereich vorsehen. Sie würde in 50-60 Metern Höhe die U-Bahn Stationen Oberwiesenfeld, Frankfurter Ring und Studentenstadt miteinander verbinden und damit eine bisher fehlende Tangentiale herstellen. Der sechsspurige Frankfurter Ring gilt ohnehin als staugeplagte Strasse, ein praktisch emissionsloses darüber gleiten in einer City-Seilbahn könnte also Zukunft haben. Bereits wurden Fragen bezüglich Finanzierung und Machbarkeit geklärt, ob die erste Stadtbahn Deutschlands jedoch wirklich realisiert wird, oder Einsprachen von Anwohnern das Projekt kippen, werden wir noch sehen müssen. Nichtsdestotrotz wird das Projekt in der süddeutschen Metropole richtungsweisend für die Seilbahnkultur in Deutschland sein. Die Stadt Wuppertal, die dank ihrer Schwebebahn bereits Erfahrung mit dem Transport über der Strasse hat, plant ebenfalls eine Seilverbindung. Diese soll vom Bahnhof Richtung Universität und weiter in den höhergelegenen Stadtteil Küllenhahn führen. Der Hersteller Doppelmayr rechnet mit einer maximalen Kapazität von 5’000 Personen pro Stunde und Richtung, was rund 1’000 vollbesetzten PKW oder 100 Bussen entspricht. Wie sich dieses Projekt jedoch entwickeln wird, ist auch abhängig vom Erfolg in München.
Geht auch die Schweiz steil?
Wie immer ein bisschen konservativer wird in der Schweiz über Gondelbahnen in Städten diskutiert. 2020 erhält der Zürchersee eine schwebende Verbindung über das Seebecken. Die «Züribahn» wird anlässlich des 150-jährigen Jubiläum der Zürcher Kantonalbank erstellt und ist schon die dritte Seilbahn über den See. Bereits 1939 und 1959 verbanden Gondeln die beiden Seeseiten. Wie lange die Bahn jedoch stehen bleibt ist zur Zeit noch nicht abschliessend geklärt. Sie wird auch nicht in den Verkehrsverbund eingebunden, Fahrten kosten also Extra.
Und obwohl die Schweiz mit «Seilbahn Schweiz» einen eigenen Branchenverband für Seilbahnbetreiber hat, werden wir in Zukunft wohl immer noch am meisten mit Ski und Snowboard eine Gondel betreten und nicht mit Fahrrad oder Aktenkoffer.
Vorteile liegen auf der Hand
Es gibt einige Gründe, wieso die Seilbahn einer Strassen- oder U-Bahn vorzuziehen ist. Die Gondeln schweben praktisch lautlos über die Stadt, sie wird energieeffizient und mit Strom betrieben. Ausserdem ist die Bahn innerhalb ein bis zwei Jahren fertiggestellt, es müssen keine Tunnel gebohrt oder auf ganzen Strassenabschnitten Gleise verlegt werden und die Kapazität ist durchgehend hoch. Die Gondeln verlassen meistens die Station mit einem Abstand von 20-40 Sekunden, es gibt dadurch keine überfüllten Bahnsteige, auf denen sich grosse Menschenmengen ansammeln. Zur Rushhour kann die Beförderungsleistung schnell erhöht werden. Man stelle sich vor, wie viele Busfahrten benötigt werden, um pro Stunde 1’000 Passagiere zusätzlich befördern zu können.
Kritiker bemängeln hingegen die Privatsphäre der Anwohner oder die Verschandelung des Stadtbildes. Beide Themen waren auch in Bolivien Teil der Debatte. Doch war für die Bevölkerung klar, dass die Bahn, die in Zukunft über ihr Haus schweben würde, die Lebensqualität in der Stadt massiv erhöhen wird, neue Verkehrswege möglich werden und der Verkehrskollaps bewältigt werden kann.
La Paz und El Alto hatten keine Wahl, es waren schlicht zu viele Autos und Busse unterwegs. Wir in Europa haben noch eine Wahl, und diese sollte auch eine Seilbahn berücksichtigen. Oder anders gesagt: Wenn wir bald einmal nicht mehr durch die Stadt kommen, kann die über uns schwebende Gondel die Rettung sein.
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