Weekly, KW11

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Guten Abend aus der rethink-Redaktion.

Die Sonne scheint, der Frühling macht sich bemerkbar. Zeit sich auf die Nachrichten der vergangenen Woche zu fokussieren. Wir empfehlen dir heute, ein Glas oder Tasse mit deinem Lieblingsgetränk, einen gemützlichen Sitzplatz und genügend Zeit für das Weekly. Wir bringen dir heute Inhalt. Viel Inhalt.

Wir haben drei Schwerpunkte: Die Unruhen auf Korsika und die Forderungen der Insel an Paris. Ausserdem holen wir ein Thema nach, welches letzten Sonntag vergessen ging. Und wir sprechen über den Krieg in der Ukraine, und was uns hilft, mental mit diesem Menschenrechtsverbrechen umzugehen.


Frankreich stellt Korsika Unabhängigkeit in Aussicht.

Seit Wochen wird die Mittelmeerinsel Korsika von Ausschreitungen erschüttert. Mitte der Woche besuchte Frankreichs Innenminister nun die Insel. Er stellt umfangreiche Zugeständnisse in Aussicht – zunächst aber müsse die Gewalt aufhören.

Hintergrund:

Will man die aktuellen Proteste auf Korsika verstehen und einordnen können, muss ein Blick in die Vergangenheit geworfen werden. 

Seit dem Mittelalter zum italienischen Stadtstaat Genua gehörend, wechselte 1769 die Insel zu Frankreich. Nach einer kurzen Phase von wirtschaftlicher Blüte und kultureller Entwicklung unter der italienischen Regierung beendeten die französischen Besetzer diese Unabhängigkeit wieder. Die korsische Bevölkerung lehnte sich gegen die Franzosen auf, es gab ein kurzes Zwischenspiel unter britischer Herrschaft, bis 1811 Korsika definitiv als Departement zu Frankreich wechselte. 

Mit dem anschliessendem wirtschaftlichen Rückgang und vielen Bewohner:innen die die Insel verliessen, gewann die korsische Mafia an Einfluss. Die immer noch ärmste Region Frankreichs, wo ein Fünftel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, ist seit vielen Jahren ein Hort der organisierten Kriminalität.

Die Verbindungen zwischen der korsischen Mafia und Politiker auf dem Festland wurden lange verleugnet. Und weil die französische Regierungen durch die militante Unabhängigkeitsbewegung eingeschüchtert waren, haben sie den Kampf gegen die Mafia auf der Insel nie ernsthaft aufgenommen. 

Die Folge: Korsika hat seit langem eine der höchsten Mordraten Frankreichs. Hier werden dreimal so viele Menschen umgebracht wie im Grossraum Paris - darunter in den letzten Jahren vier Bürgermeister.

Widerstand gegen Paris:

In den 1970er-Jahren entwickelten sich zusätzlich eine Nationalistenbewegung und mehrere Separatistengruppen, die sich dem Kampf gegen die Zentralregierung in Paris verschrieben hatten. Seit ihrem Entstehen hatten verschiedene Gruppen immer wieder aufflackernde Unruhen angestachelt, die von der Polizei niedergeschlagen wurden. Der Mord an Gouverneur Claude Erignac 1998 aber markierte den "Schwanengesang von Korsikas militanter, geheimer Nationalistenbewegung", sagt Korsika-Kennerin und Buchautorin Hélène Constanty im Interview mit dem Sender France 24.

Als Todesschütze im Mord an Erignac wurde Yvan Colonna identifiziert. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und sitzt diese Strafe in einem Gefängnis in Arles ab. 

Die aktuellen Unruhen gehen auf einen Angriff auf den zum Helden der Nationalistenbewegung stilisierten Colonna Anfangs März zurück. Seitdem liegt er im Koma. 

Nach dem Angriff war es auf der beliebten Ferieninsel wiederholt zu schweren Ausschreitungen gekommen. Letzten Sonntag war eine zunächst friedliche Demonstration von mehreren Tausend Menschen in Bastia ausser Kontrolle geraten. Dabei wurden 67 Menschen verletzt, unter ihnen 44 Sicherheitskräfte. Bei den Ausschreitungen setzten einige der maskierten Demonstranten Molotowcocktails und selbst gebaute Sprengkörper ein. Die Polizei ging mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstrant:innen vor.

Der französische Innenminister Gérald Darmanin hat im Vorfeld seines Besuchs in einem Zeitungsinterview einen gewisse “Verantwortung” des Staates für den Angriff auf Colonna eingeräumt. Der Staat müsse “Beschützer der Personen sein, die unter seiner Verantwortung stehen”. Die Regierung sei verpflichtet, “die Wahrheit über das, was passiert ist”, herauszufinden. 

Autonomie in Aussicht:

Im gleichen Interview zeigte Darmanin auch Gesprächsbereitschaft über eine mögliche Unabhängigkeit Korsikas: “Wir sind bereit, bis zur Autonomie zu gehen”.

Voraussetzungen für Verhandlungen sei jedoch, dass auf der Insel wieder Ruhe einkehre. Es könne unter dem “Druck” von Sprengkörpern und “Allgegenwart der Ordnungskräfte” keinen “aufrichtigen Dialog” geben, so der Innenminister weiter.

Seit 2015 sind auf Korsika die Nationalisten an der Macht. Grundsätzlich hatte sich die Lage seither beruhigt, sie möchten aber mehr Spielraum, was die Gestaltung eigener Gesetze angeht. Zum Beispiel möchten sie Immobilienspekulationen auf der Insel den Riegel schieben. Zudem fordern sie die Anerkennung der korsischen Sprache. Anders als in der Schweiz ist dies in Frankreich sehr heikel. Laut dem republikanischen Ideal sollen alle Französinnen und Franzosen gleich sein – das gilt auch für die Sprache.

Ein autonomes Korsika wäre in der sonst zentralistisch regierten Republik Frankreich historisch. Diese institutionelle Frage werde “logischerweise während der zweiten Amtszeit” von Präsident Emmanuel Macron in Angriff genommen, stellte der Innenminister in Aussicht. Die französischen Präsidialwahlen finden im April statt.


Krieg in der Ukraine.

Die wichtigsten Ereignisse:

Die Woche war erneut geprägt von anhaltenden Bombardierungen und Kämpfen in zahlreichen ukrainischen Städten. Besonders im Osten sowie in Küstennähe leben die verbleibenden Zivilist:innen unter andauerndem Beschuss. 

Am Mittwoch wurde in der umzingelten Hafenstadt Mariupol ein Theater beschossen, in dem sich Hunderte Schutzsuchende aufhielten. Die Opferzahl ist noch unklar, Russland und die Ukraine weisen sich gegenseitig die Verantwortung für den Angriff zu. 

Für die russische Truppen wird die Invasion immer mehr zu einem Kraftakt. Der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte, die fehlende oder anfällige Ausrüstung und grosse logistische Probleme hindern sie bisher am erwarteten Grossangriff auf Kiew. 

Gemäss dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sollen inzwischen über 3 Millionen Menschen aus der Ukraine fliehen oder geflohen sein, die allermeisten davon Frauen und Kinder. Verschieden Menschenrechtsorganisationen berichten von Gewalt und Menschenhandel an Geflüchteten. 

Neben der katastrophalen humanitären Lage in der Ukraine, nimmt auch die Gefahr einer globalen Hungerkrise jeden Tag zu. Die Ukraine und Russland stemmen 30 Prozent der weltweiten Getreidelieferungen. Wegen des Krieges ist jetzt die wichtigste Exportroute über das Schwarze Meer gesperrt. Die Preise für Getreide sind bereits angestiegen, mit weitreichenden Folgen, besonders für Entwicklungsländer.

Aktuell liegen die grössten Hoffnungen auf den Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau. Der russische Aussenminister sagte am Mittwoch, er hoffe auf einen Kompromiss, der namentlich die Neutralität der Ukraine beinhalten würde. Die Ukraine dürfte also nicht dem Militärbündnis NATO beitreten. In einer Videobotschaft sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, die Verhandlungspositionen hörten sich “inzwischen realistischer” an.

Mentale Gesundheit:

Der Krieg in der Ukraine löst starke Emotionen aus. Auch wenn wir nicht direkt betroffen sind. Die Nachrichten und Bilder, die wir tagtäglich zu sehen bekommen, lassen uns nicht unberührt. Umso wichtiger ist es, besonders auf unsere mentale Gesundheit zu achten.

„Darf“ man sich angesichts des Kriegs in der Ukraine überhaupt schlecht fühlen?
Der Psychotherapeut Lukas Wagner erklärte hierzu im Gespräch mit der “Kleine Zeitung” aus Österreich: “Man darf alles spüren. Je mehr wir versuchen, Gefühle zu bewerten, desto schwieriger wird es. Es geht in beide Richtungen: Man darf sich schlecht fühlen. Man darf betroffen sein. Man darf unfassbar zornig, wütend, grantig, traurig sein. Das hat alles seinen Platz. Aber genauso darf es einem in die andere Richtung auch gut gehen. Was man spürt, darf einen Platz haben.” 

Auch ein Gefühl der “Ohnmacht” macht sich oft breit. Wagner rät dazu, sich einzugestehen, dass man ohnmächtig ist. Es gebe bestimmte Situationen, in denen wir abhängig davon sind, was eine andere Person entscheidet. “Auf diese Person, die da an ihrem langen Tisch sitzt, haben wir im Moment wenig Einfluss”.  Dieses Gefühl von Ausgeliefertsein erzeuge einen unglaublichen Stress und den gelte es anzuerkennen. 

Ausserdem helfe, sich auf die Dinge zu konzentrieren, in denen wir selbst handlungsfähig sind. Helfen kann man etwa, indem man Freundinnen und Freunden zuhört, Geld spendet, oder auch sichtbar mit seiner Stimme werde, ob auf der Strasse oder in den sozialen Medien. 

Und gerade die sozialen Medien stellen eine weitere Herausforderung dar: 

“Einerseits wollen wir wissen, was los ist und andererseits halten wir dieses Wissen schwer aus. Es ist ein Spagat. Man sollte gut hinschauen und darüber nachdenken, was das mit einem macht.” Es kann etwa helfen, die Zeit auf Apps und Nachrichtenseiten zu reduzieren, oder auf bestimmte Tageszeiten zu beschränken. Ausserdem sollte man sich bewusst informieren, nicht jeden Tweet oder Post zum Thema aufsaugen, sondern sich auf verlässlichen Kanälen informieren, die Fakten prüfen und trotzdem regelmässige Updates geben.  

Und auch wenn es sich vielleicht “falsch” anfühlt: Bleib’ informiert, aber lenke dich ab mit Dingen, die dir Freude bereiten.  

Was im letzten Weekly vergessen ging: Florida erlässt ein neues Gesetz - und katapultiert sich damit gleich in längst vergangene Zeiten.

Mit dem sogenannten “Don’t say gay bill” verbietet der US-amerikanische Bundesstaat Florida LGBTQ+-Themen an Schulen. Über Fragen der Sexualität sollte in der Unterstufe grundsätzlich nicht geredet werden, findet Senator Dennis Baxley, einer der Initianten des Gesetzes. An der Unterstufe sollten Lehrpersonen den Kindern nur Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten. Mit ihnen über Themen wie gleichgeschlechtliche Liebe oder Geschlechtsidentität zu reden, sei nicht altersgerecht. Man zwinge den Kindern sonst kulturelle Ansichten auf, so Baxley im Gespräch mit Radio SRF. Nur sind gleichgeschlechtliche Beziehungen in den USA aber nicht einfach “kulturelle Ansichtssache”, sondern eine durch das Oberste Gericht abgesicherte Lebensform. 

Durch Schulschliessungen und Masken Vorschriften während der Pandemie hätten viele Eltern in den USA das Gefühl, die Kontrolle entgleite ihnen. Die Republikanische Partei preist ihre neuen Gesetze nun als Massnahmen gegen diesen Kontrollverlust. So gibt etwa das “Don’t say gay”-Gesetz in Florida Eltern das ausdrückliche Recht, Schulbehörden vor Gericht zu zerren. Damit könnten Eltern, die Mühe mit der sexuellen Orientierung ihres Kindes hätten, die Schule für etwas verantwortlich machen, das sie nicht akzeptieren wollen. 

Den Republikanern gehe es mit der “Stärkung der Rechte der Eltern” auch darum, gesellschaftliche Veränderungen wieder rückgängig zu machen und ihre konservativen Moralvorstellungen durchzusetzen. 

Eine Mehrheit der Bevölkerung Floridas lehnt das Gesetz übrigens ab, im Parlament haben aber die Republikaner die Mehrheit. Und darum darf über Themen wie Homosexualität oder Transgender in Floridas Unterstufen-Klassen schon bald nicht mehr gesprochen werden.


Redaktionsschluss: 14:00
Weekly 11/2022

Headerbild von Milad Fakurian via Unsplash

© rethink-blog 2022

Oli Wingeier

Oli, findet alles Neue spannend und erstmal gut, ausser die neuen Rechten. Duscht jeden Morgen zu lange, besitzt mehr als tausend Notizbücher und zu viele Gedanken (oder umgekehrt).
Für rethink wühlt er sich jede Woche durch etliche Nachrichten und kreiert dann daraus eine Zusammenfassung der wichtigsten News. Zu lesen und hören als “Weekly”

https://instagram.com/oli.wingeier
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