Weekly, KW 37
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Guten Abend aus der rethink-Redaktion.
Unser Fokus heute liegt in Israel, wo am Dienstag das Oberste Gericht eine geschichtsträchtige Anhörung begonnen hat. Und wir schauen in die katholische Kirche und wie diese sexuellen Missbrauch vertuscht oder gedeckt hat. Nun ist zum ersten Mal wissenschaftlich über das Thema berichtet worden.
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Oberstes Gericht in Israel tagt über eigene Entmachtung.
Seit Jahresbeginn ist sie der Auslöser für samstägliche Proteste mit hunderttausenden Menschen: Die Justiz-Reform der rechts-religiösen Regierung in Israel.
Seit Dienstag berät das Oberste Gericht im Land nun über einen Gesetzestext, den das Parlament Ende Juli verabschiedet hat und der die Kompetenzen des Gerichts massiv einschränken würde.
Hintergrund:
Die Knesset - das israelische Parlament - hatte die sogenannte Angemessenheitsklausel abgeschafft, die dem Gericht die Möglichkeit gab, Entscheidungen von Regierungsmitgliedern und anderen Amtsträgern als âunangemessenâ einzustufen, wenn sie nach Auffassung des Gerichts nicht im Interesse der Allgemeinheit sind. Da Israel weder über eine Verfassung noch eine starke Legislative verfügt (das Parlament besteht nur aus einer Kammer), kommt dem Obersten Gericht eine wichtige Rolle bei der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung zu.
Faktisch kann nun die Mehrheit im Parlament jedes beliebige Gesetz erlassen. Selbst Gesetze, die Minderheiten diskriminieren, gegen Menschenrechte verstossen oder Korruption begünstigen, dürfen mit der Gesetzesänderung vom Höchsten Gericht nicht mehr für ungültig erklärt werden.
Kritiker:innen warnen seit Jahresbeginn vor einer Schwächung der Demokratie und willkürlicher Besetzung entscheidender Positionen im Regierungsapparat. Selbst Staatspräsident Isaac Herzog zeigt sich besorgt über die Entwicklung und sieht die Unabhängigkeit des israelischen Staates in Gefahr. Doch sein Vorschlag, das verabschiedete Gesetz zu überarbeiten und die Justizreform erst einmal eineinhalb Jahre auf Eis zu legen, fand bisher bei der Regierung kein Gehör.
Unterstützer:innen der Reform werfen dem Gericht hingegen vor, übermässig Einfluss auf politische Entscheidungen genommen zu haben. Die Generalstaatsanwaltschaft kommt aber zum Schluss, dass die Prüfung auf âAngemessenheitâ bisher eher zurückhaltend eingesetzt wurde. In aller Regel würden die Richter:innen Petitionen gegen Gesetze oder Personalien auch in kontroversen Fällen ablehnen. Sollten sie doch Handlungsbedarf sehen, würden die fraglichen Institutionen meist aufgefordert, ihre Entscheidungen zu prüfen. Dass Gesetze oder Personalentscheide wegen âUnangemessenheitâ aufgehoben worden sind, sei die Ausnahme, fasst die Generalstaatsanwaltschaft in einem Bericht an die höchsten Richter:innen zusammen.
Das Gericht berät nun über das neue Gesetz, weil mehrere Organisationen der Zivilgesellschaft Petitionen eingereicht hatten und es aufforderten, sich der Sache anzunehmen. Die Organisation âMovement for Quality Government (MQG)â argumentierte, dass die Abschaffung der Angemessenheitsklausel gegen die politische Verfasstheit des Staates verstosse, weil der Schritt âgrundlegend die Struktur der parlamentarischen Demokratie verändertâ.
Der Start der Beratung am Dienstag war gleich in mehrerlei Hinsicht historisch: Die israelische Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu hatte die Reform am 24. Juli als sogenanntes Grundgesetz beschlossen. In Israel haben diese Grundgesetze bis dato Verfassungscharakter, auch wenn sie in der Regel wie jedes andere Gesetz mit einfacher Mehrheit beschlossen werden. Würde das Gericht gegen das Gesetz zu seiner eigenen Entmachtung vorgehen, wäre es das erste Mal, dass es ein Grundgesetz aufhebt. Auch deshalb tagte das Oberste Gericht erstmals in seiner Geschichte mit allen 15 Richterinnen und Richtern.
Was jetzt passiert:
Der Konjunktiv im vorherigen Absatz lässt es schon vermuten: Eine Entscheidung des Höchsten Gerichts ist noch nicht absehbar. Es wird erwartet, dass sich die Beratungen mehrere Wochen hinziehen. Sollte das Gesetz vom Gericht gekippt werden, droht dem Land eine Staatskrise. Denn das Gesetz ist seit dem 25. Juli in Kraft. Juristisch gesehen dürfte das Gericht also gegen das umstrittene Gesetz gar nicht mehr vorgehen.
Die israelische Gesellschaft, die Führung staatlicher Institutionen und Staatsbeamte müssten entscheiden, wem sie folgen: der Regierung oder dem Obersten Gericht. Sollte sich das Militär und Geheimdienste gegen die Regierung stellen, käme das einem militärischem Coup gleich.
Schon vorher verhärteten sich die Fronten. Israels Generalstaatsanwältin Gali Bahrav-Miara, eine der prominentesten Gegnerinnen der Reform, erklärte, die Position der Regierung sei nicht vor Gericht mitzutragen und forderte die Richter:innen auf, das Gesetz für ungültig zu erklären. Parlamentspräsident Amir Ohana gab in einer eigens einberufenen Pressekonferenz vor dem Start der Verhandlung schon mal den Ton vor: âDie Knesset wird es nicht dulden, mit Füssen getreten zu werden. Ich stehe mit meiner Funktion als Parlamentssprecher vor Ihnen, und in dieser Funktion rate ich dem Gerichtshof und seinen Richtern, die Grenzen ihrer Macht anzuerkennen. In einer Demokratie ist keine Institution allmächtig.â
Unabhängig vom Entscheid des Obersten Gerichts ist klar: Israel wird in diesem Jahr - wo das Land notabene seinen 75. Geburtstag feiert - nicht zur Ruhe kommen. Seit seiner Gründung kennt der Staat Israel Krisen. Innen- wie aussenpolitische. Und dennoch schien noch keine so verzwickt und ausgangslos wie die aktuelle.
Missbrauch in der katholischen Kirche.
Während Jahrzehnten stellte die römisch-katholische Kirche im Bereich des sexuellen Missbrauchs eigene Interessen über das Wohl und den Schutz der Opfer.
Eine am Dienstag vorgestellte Studie enthüllte zum ersten Mal das Ausmass. Von 1950 bis heute konnten 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch identifiziert werden. In drei Viertel der Fälle handelt es sich um Missbrauch an Minderjährigen. In 39 Prozent der Fälle war die betroffene Person weiblich, in knapp 56 Prozent männlich. Bei den Beschuldigten handelt es sich bis auf wenige Ausnahmen um Männer. Die meisten Fälle wurden nicht aufgeklärt, sondern verschwiegen, vertuscht oder bagatellisiert.
Hintergrund:
Für eine Pilotstudie im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz und anderen kirchlichen Institutionen untersuchte ein Team der Universität Zürich die Archive der römisch-katholischen Kirche in der ganzen Schweiz. Die Studie ist ein Meilenstein. Zum ersten Mal liefert sie klare Zahlen zu Fällen sexuellen Missbrauchs. Historiker:innen unter der Leitung von Monika Dommann und Marietta Meier hatten Zuga ng zu allen Archiven der katholischen Kirche. Besonderes Interesse galt den sogenannten Geheimarchiven der Bistümer sowie den Archiven der kirchlichen Fachgremien für sexuelle Übergriffe. Während rund einem Jahr verschafften sich die Wissenschaftler:innen einen Überblick über den Zustand der Archive, wie es um die Quellenlage steht, in welchem Ausmass Akten vernichtet oder Fälle von sexuellem Missbrauch vertuscht oder aufgearbeitet wurden. Über Jahre hinweg hat die römisch-katholische Kirche problematische Priester geschützt und Fälle von sexuellem Missbrauch unter den Teppich gekehrt. In vielen Fällen wurden die Eltern der betroffenen Kindern unter Druck gesetzt, dass sie schweigen und den Täter nicht kritisieren. Das mache man nicht als guter Christ, zitiert die Studie etwa eine Akte.
Durch die Untersuchung wird klar, dass ein häufig angewendetes Mittel die Versetzung eines Priesters innerhalb der Schweiz war. Am neuen Ort wurden die Verantwortlichen nicht immer über die Vergangenheit eines problematischen Priesters aufgeklärt. So zeichnen die Forschenden die Geschichte eines Priesters nach, der zu Beginn der 1960er-Jahren wegen âwiederholter und fortgesetzter Unzucht mit und vor Kindernâ zwar zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, aber nicht seines Amtes enthoben wurde. Die Verantwortlichen der katholischen Kirche liessen ihn weiter in der Seelsorge samt Kontakt mit Kindern eingesetzt und versuchten seine Taten durch Versetzung in ein anderes Bistum bewusst zu verschleiern. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis erwartete den Priester eine erfolgreiche Karriere: Er wurde zum Pfarrer gewählt und konnte beinahe vierzig Jahre in verschiedenen Gemeinden wirken. Gemäss Gerichtsdokumenten hat er mindestens 67 Kinder sexuell missbraucht.
Was jetzt passiert:
Die Pilotstudie ist laut den Studienleiterinnen ein Test gewesen, wie gross die Kooperationsbereitschaft der Kirche wirklich ist. Nun sei der Weg frei gemacht, weitere Untersuchungen anzustellen. Bereits jetzt ist die Finanzierung weiterer Studien durch die Schweizer Bischofskonferenz bis 2026 zugesichert. Vertieft sollen etwa noch katholische Heime und Internate sowie Missionen im Ausland erforscht werden.
Die Studie macht auf spezifische Probleme aufmerksam, die Missbrauch im römisch-katholischen Umfeld begünstigen würden. Die gesellschaftliche Stellung der Priester in der Kirche, der Umgang mit Sexualität, das Zölibat oder auch das Sakrament der Beichte müssten innerhalb der katholischen Kirche intensiv angeschaut werden.
Joseph Bonnemain, der Bischof am Bistum Chur ist, erklärte auf der Pressekonferenz, dass neue Meldestellen geschaffen werden sollen. Diese sollen nicht in die alten Strukturen der Kirche zurückfallen und zusammen mit den Betroffenen ausgearbeitet werden. Auch eine vertiefte psychologische Prüfung für zukünftige kirchliche Angestellte soll in der Schweiz eingeführt werden.
Künftig dürfte das Zwangs-Zölibat kirchenintern für Diskussion sorgen. Das Zölibat steht für Ehelosigkeit und sexueller Enthaltung. Für katholische Priester ist das Zölibat ein Muss. Kritisch sieht das Stefan Loppacher. Er ist Präventionsbeauftragter des Bistums Chur: "Ein destruktiver Umgang mit Sexualität kann zum Risikofaktor werden. Auch da ist man in der Sexologie und auch in der Psychiatrie mittlerweile in der Forschung weit vorangeschritten und man weiss, dass primäre menschliche Bedürfnisse nicht einfach unterdrückt werden können, ohne dass es Konsequenzen im konkreten Leben der Person und des Umfeldes hat."
In der Vergangenheit seien angehende Priester denkbar schlecht auf das Leben in sexueller Enthaltsamkeit vorbereitet worden. Da das Thema so tabu sei, könne auch in der Priesterausbildung nicht offen und transparent darüber gesprochen werden.
Wird durch die Kirche das Zölibat verpflichtet, verunmöglicht das ein gesundes Verhältnis zur eigenen Sexualität. Jedoch leben ganz viele Priester zölibatär, ohne sexualisierte Gewalt anzuwenden. Das Zölibat selbst macht Priester nicht zu Tätern. Es muss nicht, es kann aber ein Grund für sexualisierte Gewalt sein.
An der Präsentation der Studie stellte der anwesende Bischof Joseph Bonnemain ein Fragezeichen hinter das Zölibat in der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz. Und selbst Papst Franziskus sagte im Frühling in einem Interview, dass die Ehelosigkeit der Priester nicht in Stein gemeisselt sei.
1002 Fälle sexueller Gewalt sind wissenschaftlich bestätigt. Doch nicht alle Fälle sind in Archiven zu finden, entweder weil Akten vernichtet wurden oder sich Betroffene aus Angst oder Scham nicht trauten, die Vorfälle zu melden. Es ist also die berühmte Spitze des Eisbergs, der nun ans Licht gekommen ist. Der Weg, den die römisch-katholische Kirche noch vor sich hat, um die Vergangenheit wie auch ihre Strukturen, die sexualisierte Gewalt begünstigt haben, aufzuarbeiten, wird ein langer sein. Doch ein wenig Hoffnung gibt es aus der Studie: Zwischen 1950 und 2023, dem Zeitraum, den die Forschenden untersucht haben, sind Fälle von sexuellem Missbrauch, oder zumindest die Beweise, die gefunden wurden, stetig weniger geworden.
Redaktionsschluss: Sonntag um 17:30
Weekly 37/2023
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