Weekly, KW 41
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Guten Abend aus der rethink-Redaktion.
Es ist das Thema der Woche und gibt sowohl in der Gesellschaft wie Politik zu reden: Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas im Nahen Osten. Wie so oft ist die Grenze zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht und Opfer und Täter nicht ganz einfach zu zeichnen. Bei uns im Fokus sind darum die Hintergründe der Gewalt. Ausserdem bei uns Thema: Australiens Bevölkerung spricht sich gegen mehr Mitspracherecht ihrer indigenen Bevölkerung aus. Und Polen wählt heute ein neues Parlament.
Herzlich willkommen zum Weekly, schön bist du heute mit dabei.
Nahost-Konflikt.
Das ist geschehen:
Die radikalislamische Hamas griff Israel am Samstag vor einer Woche massiv mit Raketen an, aus dem Gazastreifen fielen Terroristen ins Land ein, die zahlreiche unschuldige Zivilist:innen ermordeten und entführten. Die israelische Armee schlägt seit letztem Wochenende zurück und riegelte den Gazastreifen ab. Die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu erklärte den Kriegszustand. Seit Beginn des Krieges kamen rund 1’300 Israelis ums Leben, mindestens 3’300 wurden verletzt, etwa 150 wurden mutmasslich entführt. Nach Angaben der Hamas sollen 13 der Geiseln bei israelischen Luftangriffen getötet worden sein. Aus dem Gazastreifen werden etwa 2’300 Tote und fast 9’800 Verletzte gemeldet. Die Angaben stammen von israelischen oder palästinensis chen Behörden und lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Die israelischen Streitkräfte hatten die Bewohner:innen des nördlichen Teils des Gazastreifens aufgefordert, sich in den Süden zu begeben, da sich Israel auf einen Bodenangriff oder eine verstärkte Offensive vorbereitet. In dem Gebiet leben etwa eine Million Menschen. Nach Angaben des israelischen Militärs sind Hundertausende Palästinenser auf dem Weg Richtung Süden, viele blieben jedoch im Verkehr stecken, der durch Strassensperren der Hamas verursacht wurde.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO wies auf die Probleme bei einer Evakuierung hin. Es gebe im Norden des Gazastreifens 22 medizinische Einrichtungen mit rund 2’000 Patient:innen. Man könne diese Menschen nicht so einfach in den Süden bringen. Das sei lebensbedrohlich für die Patienten. Für das medizinische Personal stelle sich nun die Frage, die Patienten zurückzulassen, oder die Betreuung weiterhin sicherstellen und sich dafür selbst in Lebensgefahr bringen.
Das ist der Gazastreifen:
Das Palästinensergebiet Gazastreifen ist ein grösstenteils von Israel umgebener Landstrich an der Mittelmeerküste, im Süden grenzt er an Ägypten. Das Küstengebiet ist 45 Kilometer lang und etwa sechs bis 14 Kilometer breit. Die Enklave hat etwa die Grösse beider Kantone Appenzell zusammen. Politisch ist der Gazastreifen Teil der Palästinensischen Autonomiegebiete, ebenso wie grosse Teile des Westjordanlands. Verwaltungszentrum im Gazastreifen ist Gaza-Stadt. Heute leben im Gazastreifen rund zwei Millionen Palästinenser:innen, mehr als die Hälfte davon sind Geflüchtete. Schon jetzt ist der Landstrich eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Erde: Durchschnittlich 5’300 Menschen müssen sich einen Quadratkilometer Fläche teilen.
Hilfsorganisationen zufolge lebt ein Grossteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze und ist von Hilfslieferungen abhängig. Fast die Hälfte der Menschen im Gazastreifen ist jünger als 18. Viele von ihnen kennen nur die beengten Verhältnisse des dicht besiedelten Gebietes, denn die Ein- und Ausreise wird seit der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas im Jahr 2007 streng kontrolliert.
Die Wurzeln des Konflikts:
Nach dem Ersten Weltkrieg erteilte der Völkerbund - die Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen - Grossbritannien das Mandat über Palästina. Weil Juden in ihre angestammten Gebiete drängten, kam es zu Spannungen mit den arabischsprachigen Bewohner:innen. 1947 beschlossen die Vereinten Nationen, das Gebiet zu teilen: einen Staat für die Jüdinnen und Juden, einen für die arabische Bevölkerung. Die arabische Bevölkerung und viele Nachbarstaaten lehnten die Teilung ab. Es kam zum ersten arabisch-israelischen Krieg. Israel konnte sich damals behaupten, aber Jordanien annektierte das Westjordanland und Ägypten griff sich einen 40 Kilometer langen Streifen am Mittelmeer: den heutigen Gazastreifen. Bis sich Israel 1967 im Sechstagekrieg die Gebiete wieder zurückholte. Das Osloer Friedensabkommen sah 1993 vor, dass den Palästinensern grossteils die Autonomie in den israelisch besetzten Gebieten überlassen wird. Israel übertrug ihnen in den Folgejahren die Kontrolle über Gaza ganz, zog seine Soldaten zurück und räumte israelische Siedlungen. Doch durch den Rückzug Israels wurde die radikale Widerstandsbewegung Hamas zum Machtfaktor.
Die Organisation propagiert eine strikte Auslegung des Islam, lehnt das Existenzrecht Israels ab und verfügt über einen militanten Flügel, der regelmässig Raketenangriffe, Entführungen und Selbstmordattentate auf israelische Ziele verübt. Im Gazastreifen ist die Hamas aber auch als karitative Organisation tätig, was ihr viele Sympathien aus der Zivilbevölkerung eingebracht hat.
Ab 2007 kam es zur Machtteilung innerhalb der palästinensischen Gebiete: Das Westjordanland und Ostjerusalem sind seither unter der Kontrolle der Fatah - eine politische Partei die das Existenzrecht Israels anerkennt -, der Gazastreifen wird von der Hamas kontrolliert.
Mittlerweile arrangierte sich der jüdische Staat Israel mit seinen einstigen Kriegsgegnern Ägypten und Jordanien. Zuletzt zeichnete sich gar eine Annäherung zu Saudi-Arabien ab. Genau diesen Prozess torpediert die Hamas mit ihrem Angriff nun.
Die politische Lage:
Westliche Staaten betonen Israels Recht auf Verteidigung, Russland und die Türkei verlangen “Zurückhaltung”. Der Sondergesandte der Vereinten Nationen warnt vor einer weiteren Eskalation und das UNO-Flüchtlingshilfswerk appelliert an das Völkerrecht im Kriegsfall.
US-Aussenminister Antony Blinken ist derzeit auf mehreren Staatsbesuchen im Nahen Osten. Auftaktstation seiner Reise war Israel am Donnerstag. Er besuchte ausserdem Jordanien, Katar, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate. Blinken will verhindern, dass der Krieg zwischen Israel und der Hamas sich zu einem grösseren Regionalkonflikt ausweitet - und er will die Freilassung von Geiseln erreichen, die die Hamas genommen hat.
Heute wird er in Ägypten erwartet, gestern war bereits Deutschlands Aussenministerin Annalena Baerbock in Kairo zu Besuch, ebenso ihr türkischer Amtskollege. Die westlichen Staaten sind bemüht, eine Öffnung des Grenzüberganges Rafah vom Gazastreifen nach Ägypten zu erwirken. Rafah ist der einzige Grenzübergang, der nicht auf israelisches Gebiet führt. Beobachter:innen zufolge, bereite sich Ägypten seit mehreren Tagen auf die Aufnahme Hunderttausender Geflüchteter aus dem Gazastreifen vor und habe begonnen, Zeltstädte aufzubauen. Bereits jetzt gilt Ägypten als wichtiges Zubringerland für Hilfslieferungen nach Gaza. Wie viele Palästinenser und arabische Staaten vermuten die Ägypter schon lange, dass Israel bei passender Gelegenheit versuchen würde, das Palästinenser-Problem in den Süden abzuschieben. Der aktuelle ägyptische Staatschef Abdel Fatah El-Sisi hat bereits deutlich gemacht, dass er die Grenze dicht lassen möchte: "Die palästinensische Frage ist die Frage aller Fragen und die Frage aller Araber. Es ist wichtig, dass ihr Volk standhaft und auf seinem Land präsent bleibt, und wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um es zu verteidigen."
Da immer mehr über die Gräueltaten der islamistischen Hamas in Israel ans Licht kämen, bekräftigte US-Präsident Joe Biden, dass alle Länder die Hamas unmissverständlich als terroristische Organisation verurteilen sollten. Das fordert in der Schweiz seit dieser Woche auch die sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates. Der Bundesrat erachte die Taten der Hamas klar als terroristische Attacke und definiere die Hamas als terroristische Organisation, wie Aussenminister Ignazio Cassis am Freitag sagte. Doch soll die Hamas auch formell in der Schweiz verboten werden? Diesen Schritt ist die Schweiz bislang nur bei den islamistischen Organisationen Al Kaida und IS gegangen. Nötig ist dafür nach geltender Rechtslage ein Verbot durch die Vereinten Nationen. Im Falle der Hamas gibt es das nicht. Der Bundesrat lässt jetzt die nötigen Gesetzesanpassungen prüfen.
Er könnte vorschlagen, den Verweis auf die UNO aus dem geltenden Recht zu streichen. Oder ein Gesetz vorlegen, das sich speziell auf die Hamas bezieht. Beides bräuchte im besten Fall Monate. Im Bundeshaus scheint ein Verbot aktuell mehrheitsfähig zu sein, Kritik kommt jedoch von ausserhalb. Wolle die Schweiz in einem Konflikt vermitteln, müsse man bereit sein, mit allen beteiligten Akteuren zu sprechen, sagt etwa Laurent Goetschel, Direktor des Friedensforschungsinstituts Swisspeace gegenüber Radio SRF. Konkrete Auswirkungen hätte ein Hamas-Verbot vor allem auf die Reisefreiheit ihrer Mitglieder und auf die Unterstützung der Organisation aus der Schweiz heraus, auch finanziell. Unklar ist, ob sich die Schweiz damit Möglichkeiten zur Vermittlung im Kleinen verbaut, zum Beispiel bei Gesprächen zur Freilassung der Geiseln im Gazastreifen.
Australiens Stimmbevölkerung lehnt mehr Rechte für Indigene ab.
Australiens Indigene sollten mit einer Verfassungsänderung eine wichtige politische Stimme bekommen. Doch eine Mehrheit stimmte gestern Samstag in einem Referendum mit 60 Prozent Nein-Stimmen gegen das Vorhaben.
Hintergrund:
Konkret ging es darum, ob die “First Nations” künftig ein in der Verfassung verankertes Mitspracherecht im Parlament bekommen sollten. Bei Annahme des Referendums hätte ein von ihnen gewähltes Gremium das Parlament in Fragen beraten können, die die Indigenen direkt betreffen. Es wäre aber den Abgeordneten überlassen geblieben, die Ratschläge zu befolgen oder nicht. Die Befürworter:innen der Verfassungsänderung hofften, dass eine stärkere Einbeziehung der Meinungen von Indigenen zu einer Verbesserung des Lebens der indigenen Bevölkerung beitragen würde.
Die indigenen Australier:innen gelten als die älteste noch bestehende Kultur weltweit und bevölkern den Kontinent seit mehr als 60’000 Jahren. Mit der Kolonisierung durch das britische Königreich im späten 18. Jahrhundert begann für sie aber eine Zeit der schweren Unterdrückung. In der 1901 verabschiedeten Verfassung wurden sie nicht einmal erwähnt. Erst 1967 wurden ihnen Bürgerrechte eingeräumt. Bis in die 1970er-Jahre wurden zudem indigene Kinder ihren Familien entrissen, um in christlichen Einrichtungen oder bei weissen Familien “umerzogen” zu werden. Erst 2008 entschuldigte sich die Regierung für das Leid, das den Opfern der sogenannten “Stolen Generation” zugefügt wurde.
Was jetzt passiert:
Die Mehrheit der Stimmbevölkerung tendierte zunächst zu einem “Ja”. Eine von den konservativen Oppositionsparteien angeführte “Nein”-Kampagne untergrub sukzessive die Argumente der Befürwortenden. Die Gegner setzten auf Slogans, die auf Angst vor Rassismus gegenüber weissen Menschen zielten. Sie warnten vor einer Spaltung der Gesellschaft, vor Landverlust und höheren Steuern. Laut Medienberichten wurde die Strategie der “Nein”-Seite durch Berater der ultrakonservativen Rechten in den USA umgesetzt. Sie ist ebenso simpel wie wirkungsvoll: Die Medien wurden über Monate mit Halbwahrheiten, Falschaussagen und Lügen überflutet.
Für Premier Anthony Albanese, der mit dem Referendum - dem ersten in Australien seit 24 Jahren - ein Wahlversprechen eingelöst hatte, ist das “Nein” eine schwere Schlappe. Noch am Morgen der Abstimmung hatte er einen Appell an die Stimmbevölkerung gerichtet und sie aufgefordert, einen Fehler der Geschichte zu korrigieren. “Ausgerechnet in dieser Woche, in der es so viel Hass in der Welt gibt, ist dies eine Gelegenheit für die Australier, Liebenswürdigkeit zu zeigen”, sagte er. Dieses Referendum sei die Chance, Geschichte zu schreiben.
Nach Bekanntgabe des Resultats, sagte Premier Albanese in einer emotionalen Ansprache, er respektiere das Ergebnis, werde aber weiter für eine Versöhnung mit den Indigenen und ein Ende der Kluft in der Gesellschaft arbeiten: “Die historische Tatsache, dass die Geschichte Australiens 65’000 Jahre alt ist, bleibt eine Quelle des nationalen Stolzes und ein Fakt. Ab Morgen werden wir das nächste Kapitel dieser grossartigen australischen Geschichte schreiben und wir werden es gemeinsam schreiben. Und die Versöhnung muss ein Teil dieses Kapitels sein.”
Parlamentswahlen in Polen.
Heute wählen 30 Millionen Polinnen und Polen ein neues Parlament. Seit acht Jahren regiert die Partei Recht und Gerechtigkeit - kurz PiS. Sie regiert nicht einfach nur, sondern hat tatsächlich die Macht an sich gerissen, die Justiz zu ihren Gunsten umgeformt, sich Medien gefügig gemacht und Posten in staatlichen Institutionen und Betrieben mit Parteileuten besetzt. Es seien die wichtigsten Wahlen seit 1989, betonte PiS-Parteichef Jaroslaw Kacynski bei Wahlkampfauftritten immer wieder. Tatsächlich steht für PiS heute viel auf dem Spiel. Sie muss um jeden Preis an der Macht bleiben, auch weil viele PiS-Politiker mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen müssten, wenn die Kontrolle über Staatsanwaltschaften und Gerichte verloren geht. Denn es gibt den Verdacht, dass die Partei staatliche Gelder zweckentfremdet haben könnte, zum Beispiel für den eigenen Wahlkampf.
Nach acht Jahren in Regierungsverantwortung hat die PiS Angst vor dem Machtverlust. In aktuellen Umfragen hat sie im Vergleich zur Parlamentswahl 2019 bis zu zehn Prozentpunkten eingebüsst. Das faktische Verbot von Abtreibungen durch das von ihr umgebaute Verfassungsgericht, die immer noch hohe Inflation und der ungelöste Dauerkonflikt mit der Europäischen Union um die Rechtsstaatlichkeit, all das hat viele Menschen gegen die PiS aufgebracht.
Stärkste Oppositionspartei ist die KO, die Bürgerplattform des ehemaligen Regierungschefs und Ex-EU-Ratspräsident Donald Tusk. Zusammen mit anderen, kleineren Parteien will sie die PiS von der Macht verdrängen. Dazu hat die ursprünglich liberale KO die grosszügigere Sozialpolitik der PiS weitgehend übernommen. Drittstärkste Partei dürfte die ultrarechte Partei Konfederacja werden. Diese ist vor allem bei jungen Männern beliebt. Sie will Steuern abschaffen und die EU verlassen, attackiert PiS und KO gleichermassen.
Gemäss Umfragen bleibt die PiS auch nach den heutigen Wahlen die stärkste Partei im polnischen Parlament. Aber es ist gut möglich, dass weder die PiS, noch die von Tusk angeführte Opposition eine Mehrheit zusammenbringen. Dann würde wohl die ultrarechte Konfederacja zur Königsmacherin werden. Viele befürchten, dass sich die Konfederacja auf eine Koalition mit der PiS einlassen könnte und damit die Regierung noch viel weiter nach rechts rückt.
Die Wahlbüros in Polen sind bis heute um 21 Uhr geöffnet, mit ersten Ergebnissen wird in der Nacht auf Montag gerechnet.
Redaktionsschluss: Sonntag um 14:30
Weekly 41/2023
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