Auf der Flucht

erstmals erschienen am 20. Juni 2019 | Lesezeit: ca. 12’

Flüchtlingslager in Kilis (Türkei) Bild: Mustafa Sultan/UNHCR

Flüchtlingslager in Kilis (Türkei)
Bild: Mustafa Sultan/UNHCR

Über 70 Millionen Menschen waren Ende 2018 weltweit auf der Flucht. Davon sind rund die Hälfte Kinder unter 18 Jahren. Die Wanderausstellung “Flucht” im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen lässt die Besucher erahnen, was es bedeutet, die eigene Wohnung, Arbeit und Familie aufgeben zu müssen. Ein Besuch, der unter die Haut geht und zum Denken anregt.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Jahr 2019, hat aber inhaltlich nur wenig an Aktualität verloren. Die Wanderausstellung ist aktuell nicht mehr in der Schweiz unterwegs. Die Inhalte können aber nun digital in einer virtuellen Tour angeschaut werden.
Hier gehts zur digitalen Ausstellung


Eltern setzen ihr Kind nur dann in ein Boot, wenn es auf dem Meer sicherer ist als auf dem Land.
— Warsan Shire, Dichterin aus Somalia

Deine Fluchtnotizen, Teil 1

Es ist Mitten in der Nacht, du hörst draussen dumpfe Schläge, durch den Schlitz unter deiner Schlafzimmertür scheint Licht und auf dem Flur hörst du deine Eltern hektisch diskutieren. Kurz darauf wird die Zimmertür aufgerissen, deine Mutter stürmt in dein mittlerweile nicht mehr so dunkles Zimmer, du blinzelst mit den Augen, bist zu überwältigt vom plötzlichen Lichteinfall. Deine Mutter, auf den Armen deine verängstigte, kleine Schwester, weckt dich unsanft auf, sagt dir, dass du aufstehen sollst. Du verstehst nichts, bis vor wenigen Minuten warst du noch tief in deiner Traumlandschaft.

Nun taucht dein Vater als grosser Schatten im Türrahmen auf, sagt dir, dass eine Partei die Macht über das Militär übernommen habe und alle Regierungsmitglieder entweder entführt oder erschossen worden seien. Das Militär suche nun nach Mitarbeitern der Regierung, um diese ebenfalls zu exekutieren.

Deine Mutter arbeitet als Beraterin für die Regierung.

Deine Familie hat keine Wahl, ihr müsst fliehen, oder ihr werdet sterben. Zeit bleibt keine übrig, ihr kommt nur heil ausser Landes, solange noch nicht alle Grenzposten besetzt sind. Deine Mutter sagt dir, dass nur deine zwei Geschwister und sie flüchten, dein Vater wolle solange wie möglich auf euer Haus und Wertsachen aufpassen. In dieser Hektik hast du 15 Minuten Zeit die wichtigsten Sachen zu packen. Einige Kleider und Essen hat deine Mutter bereits eingepackt, du kannst noch genau 4 Dinge mitnehmen, mehr hat nicht Platz. Du weisst nicht, wohin ihr geht und wie lange ihr weg bleibt.

Welche vier Gegenstände wählst du aus?

  • ein Laib Brot

  • Sackgeld

  • Pass

  • Schweizer Taschenmesser

  • Smartphone

  • Wanderschuhe

  • Familienfoto


So beginnt die Ausstellung “Flucht” in St.Gallen. Jeder Besucher zieht sich ein kleines Büchlein, wo die Fluchtnotizen eines fiktiven Menschen aufgeschrieben sind. Bevor die Geschichte der 4 Protagonisten erzählt wird, bekommen die Besucherinnen an einem Tisch die gleiche Auswahl an Gegenständen, wie du eben. Danach erleben die Besucher die Geschichten hinter den Protagonisten, woher sie kommen, welches Leben sie vor der Flucht führten, und was die Flucht für Probleme auslöst.

Eine der Fluchtnotizen ist von Abdi Farah, die Erzählungen sind zwar fiktiv, stellen aber das Schicksal vieler Menschen in Somalia dar. Abdi war Fischer und lebte mit seiner Familie rund 200 Kilometer südlich der Hauptstadt Mogadishu in einem kleinen Dorf direkt am Meer. Die Gewässer waren sehr fischreich, Abdi konnte so seiner Frau und den drei Kindern ein angenehmes Leben bereiten. Jedoch nur bis zu dem Tag, als die Terrorgruppe Al Shabaab das Heimatdorf der Familie Farah angriff und dabei ihr ältester Sohn ums Leben kam. Aus Angst um ihre Sicherheit ergriffen sie überstürzt die Flucht zu Bekannten. Da die Terrorgruppe die Küste besetzte, konnte Abdi Farah nicht mehr Fischen und seine Familie nicht mehr versorgen. Aus diesem Grund mussten die Eltern ihre 14-jährige Tochter mit einem 40-jährigen Verwandten verheiraten. Abdi hofft, dass sie nun ein gutes Leben hat und nicht mehr hungern muss.

Lebensgefährliche Flucht

Wenn Menschen ihre Heimat verlassen, ihr Hab und Gut zurücklassen und sich auf die Flucht machen, dann tun sie das nicht, weil es Spass macht. Vielfach wurde ihr Haus oder Dorf zerstört, Menschen aus ihrem Umfeld schwer verletzt oder umgebracht. Viele Terrorgruppen zerstören nicht nur Häuser, sondern vergewaltigen dazu auch noch hilflose Frauen und Kinder.

Erstmal unterwegs, gelten in den meisten Entwicklungsländer leider keine humane Flüchtlingsgesetze, was dazu führt, dass flüchtende Menschen in Haft kommen können, dort misshandelt und teilweise wieder zurück in ihre unsichere Heimat gebracht werden.


Deine Fluchtnotizen, Teil 2

Ihr habt es geschafft. Zumindest über die Grenze. Als ihr den Pass überquert habt, musstest du und deine kleine Schwester auf dem Fussboden des Autos kauern, damit euch niemand sieht. Ihr hattet beide schreckliche Angst. Ob ihr in Sicherheit seid, weisst du nicht. Deine Mutter sagt zwar immer, dass alles gut werde, aber sie klingt selber nicht überzeugt. Nun seid ihr auf dem Weg zu Verwandten, die euch für einige Zeit aufnehmen wollen. Und langsam gehen euch die Wasservorräte aus, deine Mutter will aber nicht anhalten, da sie wohl Angst hat, erwischt zu werden. So genau verstehst du sie nicht.


Haben Menschen auf der Flucht erstmal einen sicheren Ort erreicht, zum Beispiel bei Verwandten oder in einem Flüchtlingslager, geht das Leid meist weiter. Das Essen ist knapp, Wasser sowieso. Wasserrationen sind meistens auf 20 Liter pro Person und Tag beschränkt. Im Vergleich: In der Schweiz liegt der durchschnittliche Wasserverbrauch pro Person bei 160 Liter pro Tag. In den Lagern, welche von den Vereinten Nationen (UN) organisiert sind, erhalten die Bewohnenden pro Familie einen Betrag von 20 Franken pro Monat. Ausserdem besteht auch hier die Gefahr von Ausbeutung. Bildersprache-Tafeln warnen Frauen und Kinder in den Flüchtlingslagern vor sexuellen Forderungen der Aufseher und Leitenden an den Verteilstellen. Sie sollen verstehen, dass sie Anrecht auf Essensrationen haben, ohne dafür sexuelle Dienste erbringen zu müssen.

Die Gefahr des Meeres

Darstellung der Routen und ankommende Menschen in den Ländern Spanien, Italien und Griechenland.
Bild: UNHCR-Bericht “Desperate Journeys 2018”

Als im Jahr 2015 über eine Million Menschen über das Mittelmeer Europa erreichten, waren die Zeitungen voll mit Berichten darüber, an etlichen Stammtischen wurde diskutiert. Seither hat sich vieles verändert: Die Zahlen gingen stetig zurück, weniger Menschen nahmen die lebensgefährliche Passage auf sich. Dies vorallem, weil die Europäische Union ihre Rettungsflotte auf dem Mittelmeer stoppte und Italien mittlerweile privaten Rettungsbooten den Anlauf in italienischen Häfen verweigert. Eines ist aber geblieben: Es sterben weiterhin täglich Menschen auf See. 2018 waren es gemäss dem Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR – United Nations High Commissioner for Refugees) mindestens 2’275 Personen. Das sind 6 Menschen täglich.
Neben den Geflüchteten auf häufig schäbigen Schlepper-Booten müssen nun auch die humanitären Retterinnen kämpfen. Das deutsche Rettungsboot “Iuventa10”, das rund 14’000 Menschen vor dem Ertrinken rettete, wurde von der italienischen Justiz beschlagnahmt. Gegen die Crew wird wegen “Beilhilfe zur illegalen Einwanderung” ermittelt. Ihnen drohen bis zu 20 Jahren Haft. Für Menschenleben retten.

Mehr Flüchtlinge, weniger Hilfe

Viele Menschen aus Afrika sehen Europa als einzigen Hoffnungsschimmer. In fast allen Ländern in Afrika herrscht der Ausnahmezustand, selbst wenn dort keine Kriege oder Aufstände herrschen. Das beschreibt auch das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen im heute erschienen Flüchtlingsbericht “Global Trends”. Zum einen wurden mit 70.8 Millionen registrierten Menschen auf der Flucht ein trauriger Höchststand in der 70-jährigen Geschichte des UNHCR erreicht. Zum anderen befinden sich nur 16% dieser Geflüchteten in gut entwickelten Ländern wie in Westeuropa. Ein Drittel aller Flüchtlinge ist in Ländern wie dem Libanon untergebracht, wo einer von sechs Einwohner:innen Flüchtlingsstatus besitzt. Die ohnehin kritischen Infrastrukturen in den Schwellenländern kommt damit völlig an ihre Grenzen.

 

Grafik: unhcr.ch

 

Deine Fluchtnotizen, Teil 3

Du vermisst deinen Vater sehr. Wie es ihm geht, ob er überhaupt noch lebt, weisst du nicht. Ihr seid mittlerweile bei den Verwandten angekommen. Aber du willst nicht lange bleiben. Sie geben sich zwar freundlich, aber selbst du merkst, dass ihr ihnen eine Last seid. In der Nacht hörst du deine Mutter oft leise weinen. Du willst sie nicht fragen wieso sie das tut, weil du Angst hast, etwas zu erfahren, was dich verschreckt. Mittlerweile würdest du gerne wieder in die Schule, auch wenn du die in der Heimat gehasst hast. Aber den ganzen Tag im Gästezimmer zu sitzen und nicht richtig raus zu dürfen, ist auch langweilig. Ausserdem fehlen dir deine Freunde. Hättest du dich doch nur von ihnen verabschieden können. Und wie geht es wohl ihnen? Können sie noch in die Schule gehen?


  • Ein Geflüchteter ist per Definition nicht das gleiche wie eine Migrantin. Deshalb hier eine kurze Übersicht, wie das UNHCR die verschiedenen Begriffe definiert. Hinter diesen Einordnungen stehen aber überall nur Menschen.

    Flüchtlinge können nicht ohne schwerwiegende Gefahr für Leib und Leben in ihr Heimatland zurückkehren. In der Schweiz erhalten sie nur dann einen Flüchtlingsstatus, wenn sie vor individueller Verfolgung fliehen, zum Beispiel wegen ihrer politischen Meinung, oder Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit. Fliehen sie vor bewaffneten Konflikten wie Bürgerkriegen, bekommen sie oftmals nur eine vorläufige Aufnahme.

    Asylsuchende sind Menschen, die um Asyl – also um Schutz vor Verfolgung oder Gewalt – ersuchen. Ihr Asylverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Mit dessen Hilfe wird festgestellt, ob es Gründe gibt, warum sie nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können und daher Asyl benötigen.

    Migrant:innen verlassen ihre Heimat, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern oder aus familiären Gründen. In der Regel können sie in ihre Heimat zurückkehren, manchmal sind sie aber auf humanitäre Hilfe angewiesen.


Der zweite Teil der Ausstellung “Flucht”, befasst sich mit den bürokratischen Hürden, die die Schweiz für Flüchtlinge bereithält. Meist gewährt die Schweiz nur vorläufige Asylanträge, was bedeutet, dass die Situation im Herkunftsland geprüft wird, und dann entschieden wird, ob die Person zurückkehren muss oder nicht. Die Besucher erhalten die Möglichkeit, bei einem Verfahrensgespräch dabei zu sein und mitzuerleben, was für Fragen den Asylbewerbern gestellt werden. Ausserdem bleibt diese Zahl hängen: “In der Schweiz machen Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge insgesamt rund 1 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.”

 
 

Deine Fluchtnotizen, Teil 4

Wo ihr euch befindet, weisst du nicht. Ihr musstet weiterfahren, bei euren Verwandten war es nicht sicher genug. Dem Auto fehlt mittlerweile der Sprit, ihr geht zu Fuss weiter. Aber ihr seid nicht mehr alleine. Den Trampelpfad, den ihr jetzt entlang geht, benutzen auch andere Familie aus der Heimat. Du kannst zwar mit ihnen in der gleichen Sprache kommunizieren, aber richtig reden mag niemand. Denn keiner weiss, was euch hinter der nächsten Wegbiegung erwartet.


Schlusswort

Weder eine Ausstellung noch ein solcher Text kann uns erklärbar machen, was Menschen auf der Flucht oder in einer Asylunterkunft fühlen und durchgemacht haben. Wir können uns jedoch die Zeit nehmen, uns für ihr Schicksal zu interessieren. Denn jeder Mensch, der im Südsudan geboren wurde, tat dies genauso freiwillig, wie die Menschen, die in der Schweiz das Licht der Welt erblickten. Nämlich gar nicht.
Alle Bereiche der Flucht und des Schweizer Asylwesens zu beleuchten, hätte den Umfang dieses Artikels gesprengt. Für weiterführende Informationen sind die Webseiten des UNHCR, Amnesty International oder anderen humanitären Flüchtlingswerken zu empfehlen. Und natürlich ist auch ein persönlicher Besuch der Ausstellung “Flucht” eine eindrückliche Erfahrung. Die Ausstellung ist ausserdem kinderfreundlich gestaltet.


Und nun nimmt uns wunder, welche vier Gegenstände du ganz am Anfang ausgewählt hast. Was waren deine Überlegungen? Hast du deine Auswahl im Verlauf der Fluchtnotizen bereut? Lasse es uns wissen, entweder als Kommentar unter diesem Artikel, als Mail an hallo@rethink-blog.com oder als private Nachricht, falls du die Nummer des Autoren hast ;)


Mit Informationen von:
UNHCR: Bericht Desperate Journeys (2018)
Bericht Global Trends 2018
14 Postkarten zu Flucht und Asyl

Staatssekretariat für Migration: Asylstatistik 2019

iuventa10.org

© rethink-blog 2019


Oli Wingeier

Oli, findet alles Neue spannend und erstmal gut, ausser die neuen Rechten. Duscht jeden Morgen zu lange, besitzt mehr als tausend Notizbücher und zu viele Gedanken (oder umgekehrt).
Für rethink wühlt er sich jede Woche durch etliche Nachrichten und kreiert dann daraus eine Zusammenfassung der wichtigsten News. Zu lesen und hören als “Weekly”

https://instagram.com/oli.wingeier
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