Das Kino lebt halt doch noch irgendwie

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Auf TikTok liegt die Aufmerksamkeitsspanne bei maximal 30 Sekunden. Danach ist die Userin bereits beim nächsten Video. Serien entsprechen gefühlt nur noch einem Baukastensystem, damit jede Zielgruppe, die Profit abwerfen kann, erreicht wird. Und Kinos sterben doch eh aus. Niemand verlässt das Haus, wenn alle Angebote auch bequem zu Hause gestreamt werden können. Und sowieso: Warum noch Zeit und Geld in teure Produktionen investieren, wenn künstliche Intelligenz eh alles übernehmen kann?

Diesen Sommer lassen sich gleich ein paar gute Gründe finden. Und zwar im Kinosaal.
Bevor wir zu diesen kommen, einen schnellen Blick auf die künstliche Intelligenz: Wie der Schweizer Filmklassiker “Heidi” von der AI umgesetzt würde, hat der Künstler und Satiriker Patrick «Karpi» Karpiczenko vor einigen Tagen bewiesen. Das Ergebnis ist gelinde gesagt erschreckend. Und zeigt aber auch auf, dass eine künstliche Intelligenz bestehendes Wissen neu arrangieren kann. Sie erkennt weder, dass eine Kuh unnatürlich aussieht, noch kann sie bewusst etwas Neues entwickeln. Sie ist abhängig (zumindest bis jetzt noch), dass in ihren Trainingsdaten bereits etwas vorhanden ist. 

Genau hier können wir als Konsumenten noch auf kreative Köpfe der Filmindustrie zählen. Und aktuell laufen gleich zwei Filme von bekannten Regisseuren, die regelmässig die Filmszene überraschen. 

Wes Anderson, bei Jüngeren gerade bekannt durch Videos auf Social Media Plattformen, die seinen ikonischen Filmstil imitieren, produzierte mit “Asteroid City” erneut einen Comedy-Drama Streifen, dessen Setdesign ein Stückchen stärker an ein Theater als einen Kinofilm erinnert. Die Geschichte, die erzählt wird, rückt auch in diesem Jahr wie üblich bei Wes Anderson in den Hintergrund, viel prominenter werden die Kulissen, das Spiel mit Licht und Technik und besonders die Mimik der Darsteller gezeigt. In Zeiten wo die Grenzen der Technik fast unmöglich erscheinen, jeder erdenkliche Spezialeffekt in der Nachbearbeitung hinzugefügt werden kann und Animationsfilme fast schon foto-realistische Züge annehmen, setzt Anderson auf Modellbau und analoge Filmkameras. Nicht weil er es muss, sondern weil er will. So stellt zu Beginn des Filmes halt eine Modelleisenbahn einen echten Zug dar. Für uns Kinobesucherinnen ist das erkennbar, wirkt in der heutigen Zeit aber so surreal, dass es eben schon wieder interessant ist. 

 
 

Ein anderer Regisseur, Drehbuchautor und Produzent, der sich gefühlt jedem aktuellen Trend widersetzt, ist Christopher Nolan. Mit “Oppenheimer” läuft seit letzter Woche eine Filmbiographie über den Mann, der massgeblich an der Entwicklung der Atombombe für die USA beteiligt war. 

Nolan ist ein grosser Verfechter des Kinos, die ersten Trailer für seine Filme werden immer in Kinosälen gezeigt, bevor sie im Internet landen. Für “Oppenheimer” arbeitete Christopher Nolan zum ersten Mal seit über 20 Jahren nicht mit Warner Bros. als Filmverleih zusammen, sondern Universal. Warner wollte angeblich den neuen Film zeitgleich im Kino und auf seiner Streaming-Plattform veröffentlichen. Nolan hingegen bestand auf eine exklusive Kino-Phase. Diese erhielt er beim Filmgiganten Universal. 100 Tage Laufzeit im Kino und Universal veröffentlicht drei Wochen vor und nach Oppenheimer keinen anderen Film, damit dieser die (fast) volle Aufmerksamkeit erhält.  

Wie auch Wes Anderson schwört der britisch-amerikanische Filmemacher auf analoge Filmkameras. Nolan geht aber noch einen Schritt weiter und nimmt seine Produktionen vorwiegend im IMAX-Format auf. Dieses spezielle Filmformat ermöglicht ein grösseres Bild als alle anderen digitalen oder analogen Kameras und ist damit dem menschlichen Sehen am Nächsten. Für “Oppenheimer” entwickelte der renommierte Filmhersteller Kodak gar zum ersten Mal einen Schwarz/Weiss-Film für analoge IMAX-Kameras.

 
 

Selbstverständlich verzichtet auch Nolan bewusst auf Greenscreen und computeranimierte Inhalte. Wie er in einem Interview über “Oppenheimer” sagte, sei keine einzige am Computer erstellte Szene im Film. Es gebe ihm ein zu sicheres Gefühl, wenn alles in der Postproduktion nachgebessert werden kann. Und den Schauspielerinnen falle es leichter, mit einem realen Objekt auf dem Set zu agieren. So liess Nolan selbst die Testexplosion der ersten amerikanischen Atombombe in echt nachstellen - soweit wir wissen aber ohne nukleare Sprengkörper….
Ein Kinobesuch bei Christopher Nolan lässt das Publikum in eine komplett andere Welt abtauchen. Bei “Oppenheimer” bleiben viele auch nach 3 (!) Stunden Vorführung ohne Pause bis ans Ende des Abspanns sitzen. Denn die drei Stunden zuvor mit enorm guten Bildern und noch besserem Soundtrack lassen dich gar nicht aufstehen und direkt rausgehen. Genau dieses Gefühl von Immersion und alles rundherum vergessen, das gibt es nur im Kino und besonders in einem IMAX-Saal.

Cilian Murphy als J. Robert Oppenheimer am Set.
Bild: Universal Pictures

Anderson und Nolan sind bei weitem nicht die Einzigen, die einen solchen Wert auf das klassische Kino legen. Und trotzdem gehören sie gerade im Bereich der grossen und global erfolgreichen Filmen zu einer Minderheit.  

Viele Filmstudios wagen nur noch wenig Neues. Die Erlöse aus Kinoeintritten gehen seit Jahren zurück und selbst auf Streaming-Plattformen spielt ein erfolgreicher Film nicht wahnsinnig viel Geld ein. Darum geht der Trend immer häufiger zu “Sequel/Prequel und Adaption”. Also eine erfolgreiche Filmreihe erweitern oder Comicfiguren und Spielzeuge, die im realen Leben ein Verkaufsschlager sind, ins Kino bringen. Alleine in diesem Jahr laufen mit “Mission Impossible”, “Indiana Jones” und “Transformers” Produktionen, die nur noch durch ihre Beständigkeit überzeugen, aber schon lange nicht mehr innovativ oder interessant sind. Wer Tom Cruise-Fan ist, wird auch für den aktuellen “Mission Impossible” Geld zahlen. Wie bereits für den letzten und wahrscheinlich auch für den nächsten. Eine sichere Anlage für Unternehmen wie Disney, Universal oder Warner Bros. 

Und doch zeigt jeder Marvel-Superhelden Film, dass diese Produktionen wahnsinnig auswechselbar geworden sind. Es zählt hier nicht die Kreativität der einzelnen Regisseurin, Komponisten oder Drehbuchautorin. Die Geschichte wird von einem grossen Team über mehrere Filme hinweg entwickelt und welche Superheldenfigur in welcher Filmreihe vorkommen darf, wird bisweilen am Verhandlungstisch mit der Rechtsabteilung geklärt

Den Kinos verhelfen aber nicht nur eigenständige und kreative Filme zu wieder mehr Eintritten, sondern vielleicht auch bald die eigene Konkurrenz. Seit dem weltweiten Erfolg vom Streaming-Anbieter Netflix wollten auch viele andere Studios ein Stückchen von diesem Kuchen haben. Statt dass ihre Filme bei Netflix zu sehen sind und sie dafür Geld bekommen, lancierten Disney, Paramount, Warner und Universal gleich ihre eigenen Plattformen und kauften Anteile an anderen auf.
Für viele Film- und Serienfans bedeutet das: Zuerst herausfinden auf welcher Plattform was verfügbar ist und dann tief in die Taschen greifen, wenn unterschiedliche Filme geschaut werden wollen. 

Wer alle in der Schweiz verfügbaren Anbieter abonniert, zahlt knapp 60 Franken pro Monat an Gebühren.

All das spricht auch im Jahr 2023 noch für einen Kinobesuch. Und wenn dich weder “Oppenheimer” noch “Asteroid City” ansprechen: Auch der äusserst viel diskutierte Film über die Mattel-Spielfigur Barbie ist einen Besuch wert. Zwar wurde hier grosszügig mit Greenscreen und Computeranimation angerichtet, doch schafft er es, eine umstrittene und oft als “Mädchenzeugs” verschriene Plastikfigur durchaus fürs breite Publikum zu präsentieren.

Obwohl “Barbie” und “Oppenheimer” unterschiedlicher nicht sein könnten, haben sie doch einige Gemeinsamkeiten: Beide arbeiteten mit einem Budget von rund 100 Millionen US-Dollar, beide wurde von einer kleinen Firma produziert, die von einem Ehepaar gegründet wurde: Bei “Oppenheimer” ist es Syncopy von Christopher Nolan und Emma Thomas, bei “Barbie” LuckyChap Entertainment von Barbie-Darstellerin Margot Robbie und Tom Ackerley. Und Nolan wie auch Barbie-Regisseurin Greta Gerwig sind mit Oscars ausgezeichnet. 

Und schlussendlich schafften beide das, was Blockbuster wie “Indiana Jones” und “Mission Impossible” diesen Sommer nicht schafften: Die Kinos und damit die Kassen zu füllen. Alleine am Eröffnungswochende spielte “Barbie” weltweit 377 Millionen US-Dollar ein. Das ist der beste Start eines Filmes, bei dem eine Frau Regie führte überhaupt. “Oppenheimer” verdiente bisher 174 Millionen Dollar. Zusammen sind sie das erfolgreichste Kino-Wochenende im Jahr 2023. In den USA dürfte vergangenes Eröffnungswochenende als vierterfolgreichstes in die Geschichte eingehen. Der britische Guardian bezeichnet den Erfolg der beiden Filme gar als “das Wochenende, von dem Hollywood seit der Pandemie träumt”. 

Egal was du dir ansehen willst: Ein Besuch im Kinosaal kann ein ganz gutes Programm für einen warmen Sommerabend sein. Etwa weil die Säle gut klimatisiert sind oder einfach nur, um mehrere Stunden das Handy wegzulegen und nicht erreichbar sein zu müssen. Etwas, was dir keine Streaming-Plattform auf dem heimischen Sofa zuverlässig bieten kann.

 
 

Headerbild: Wes Anderson am Set von “Asteroid City” - kodak.com

© rethink-blog 2023


Oli Wingeier

Oli, findet alles Neue spannend und erstmal gut, ausser die neuen Rechten. Duscht jeden Morgen zu lange, besitzt mehr als tausend Notizbücher und zu viele Gedanken (oder umgekehrt).
Für rethink wühlt er sich jede Woche durch etliche Nachrichten und kreiert dann daraus eine Zusammenfassung der wichtigsten News. Zu lesen und hören als “Weekly”

https://instagram.com/oli.wingeier
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