Weekly, KW04
Guten Abend aus der rethink-Redaktion.
Heute mit queeren Opfer in der NS-Zeit, Differenzen bei der Revision des Sexualstrafrechts, Attentate in Ost-Jerusalem und im Fokus: Mehr Beratungsbedarf bei Pro Juventute.
Verdoppelung von Suizidberatungen bei Pro Juventute.
Das Jugendhilfswerk Pro Juventute gab am Montag seinen Jahresrückblick bekannt. 2022 seien über die Beratungshotline 147 und 147.ch doppelt so viele Beratungen zu Suizidgedanken eingegangen wie vor der Pandemie. Jeden Tag meldeten sich im Durchschnitt sieben bis acht Kinder und Jugendliche zum Thema Suizidgedanken. Ebenfalls markant gestiegen seien die Kriseninterventionen, also die Situationen, bei denen während oder nach einer Telefon- oder Onlineberatung durch 147 auch Polizei oder Ambulanz aufgeboten werden, weil akute Gefahr für die Anruferin, den Anrufer oder Drittpersonen bestehe. 2019 seien es 57 solcher Interventionen gewesen, im letzten Jahr habe sich die Zahl fast verdreifacht auf 161. Der Beratungsaufwand für Jugendliche in schwierigen Situationen habe in den letzten zwei Jahren insgesamt um 40 Prozent zugenommen. Auch Essstörungen und Selbstverletzungen seien ein grosses Thema.
Hintergrund:
Pro Juventute ist die Stiftung hinter der Beratungsplattform 147, die rund um die Uhr, kostenlos und vertraulich junge Menschen unterstützt, wenn sie kleine oder grosse Sorgen, Probleme oder Fragen haben. Erreichbar ist 147 über Telefon, Chat, SMS-Nachrichten oder E-Mail. Der Anstieg an Beratungen im letzten Jahr führt Pro Juventute auf die sogenannte “Multikrise” zurück. Krisen wie die Corona-Pandemie, Klima-Krise, Krieg in der Ukraine, drohende Inflation und soziale Ungerechtigkeit würden sich überlappen und treffen Kinder und Jugendliche in einer besonders verletzlichen Phase. Im Vergleich zu früheren Krisenzeiten sei zudem die aktuelle Multikrise aufgrund der sozialen Medien omnipräsent.
Die gestiegenen Beratungen führt das Hilfswerk auch auf die allgemeine Überlastung bei Hilfsangeboten im Bereich der psychischen Gesundheit zurück. Die Wartezeit für eine psychiatrische Behandlung habe sich in den letzten drei Jahren von einem Monat auf mehrere Monate verlängert. Dadurch melden sich häufiger Kinder und Jugendliche bei 147, die sich im besten Fall bereits in einer professionellen Behandlung befinden sollten.
Was jetzt passiert:
Pro Juventute schreibt, dass viele Kinder und Jugendliche die Multikrise gut meistern würden und auch resilienter aus der Pandemie hervorgegangen seien. Doch gebe es eine bedeutsame Minderheit, welche besonders belastet sei. Für diese fordert das Jugendhilfswerk von der Politik mehr und bessere Angebote für nach der Erstberatung, wie psychiatrische Versorgungsangebote, aber auch eine verstärkte Prävention. Etwa durch das Erlernen aktiver Stressbewältigung oder Medienerziehung.
Das Angebot 147 will auch bekannter werden. Etwa bei jungen Männern, die erfahrungsgemäss seltener oder später Hilfsangebote aufsuchen. Dafür arbeite Pro Juventute auch mit Influencern zusammen, die eine grosse Reichweite bei männlichen Jugendlichen haben.
Rechtskommission bietet Hand für Einigung im Sexualstrafrecht.
Die vorberatende Rechtskommission für Rechtsfragen des Ständerates bringt bei der Revision des Sexualstrafrechts eine neue Formulierung ins Spiel. Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats, kurz RK-S, bleibt weiterhin auf dem Standpunkt, dass für den Tatbestand der Vergewaltigung die Widerspruchslösung, also “Nein heisst Nein” gelten soll. Mit der neuen Formulierung will die Kommission das sogenannte “Freezing” ausdrücklich erwähnen. Also den Umstand berücksichtigen, dass ein Opfer eines sexuellen Übergriffs oder Vergewaltigung in eine Schockstarre geraten und gar nicht “Nein” sagen kann.
Hintergrund:
Der Nationalrat sprach sich in der Wintersession im Dezember 2022 für die sogenannte Zustimmungslösung aus, also “nur Ja heisst Ja”. Liegt eine Einwilligung nicht vor, sei der Tatbestand für eine Vergewaltigung erfüllt. Die Kommission des Ständerats lehnt dies weiterhin ab, denn diese Variante ist ihrer Ansicht nach nicht mit den rechtlichen Grundsätzen des Strafprozesses vereinbar.
Weitere Differenzen bestehen bei der Unverjährbarkeit von Sexualdelikten. Die RK-S hält an ihrem ursprünglichen Entwurf fest, dass Sexualdelikte, die an Kindern unter 12 Jahren begangen werden, unverjährbar sind. Damit will die Rechtskommission beim geltenden Recht bleiben. Der Nationalrat forderte hier eine Erhöhung des Alters, dass also Delikte an Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren unverjährbar und damit auch nach langer Zeit noch strafbar sind.
Mit der Revision will der Bundesrat das Sexualstrafrecht an die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre anpassen. Er will dass Gewalt- und Sexualdelikte, deren Opfer oft Frauen und Kinder sind, künftig härter bestraft werden.
Die damalige Justizministerin Karin Keller-Sutter warnte im Dezember im Parlament aber vor zu hohen Erwartungen. Egal ob “Ja heisst Ja” oder “Nein heisst Nein”, eine Straftat zu beweisen, bleibe weiterhin schwierig. Auch in Zukunft werde es mehrfache Befragungen von Tätern und Opfern brauchen.
Was jetzt passiert:
Der Ständerat wird die neue Vorlage voraussichtlich in der Frühjahrssession behandeln. Dort wird sich zeigen, ob die kleine Kammer sich mit dem Nationalrat einigen kann, der wesentliche Punke strenger formulierte.
Mehrere Tote bei Attentaten in Jerusalem.
Am Freitagabend hatte ein Attentäter auf Besucher:innen einer Synagoge in einer israelischen Siedlung in Ost-Jerusalem geschossen und sieben Menschen getötet. Am Samstag griff ausserdem ein 13-jähriger Junge zwei Männer in einer israelischen Siedlung an. Bei zwei Vorfällen im Westjordanland versuchten Bewaffnete am Samstagabend weitere Angriffe auf Israelis zu verüben. Diese konnten nach Angaben des israelischen Militärs verhindert werden.
Die israelischen und palästinensischen Führungen wiesen sich gegenseitig die Schuld an den Eskalationen zu. Erst am Donnerstag waren bei einer Razzia durch israelischen Soldaten im Westjordanland neun Menschen getötet worden, darunter mutmassliche Mitglieder der militanten Palästinenserorganisation Islamischer Dschihad.
Hintergrund:
Israel hatte 1967 das Westjordanland und Ost-Jerusalem erobert. Dort leben heute mehr als 600’000 israelische Siedler. Die Palästinenser hingegen beanspruchen die Gebiete für einen unabhängigen Staat Palästina mit dem arabisch geprägtem Ostteil Jerusalems als Hauptstadt.
Mehrere Länder und internationale Organisationen wie die UNO verurteilten die Angriffe. Das schweizerische Aussendepartement EDA rief alle beteiligten Parteien auf, Zurückhaltung zu üben. Neben westlichen Staaten verurteilten auch mehrere arabische Länder die Angriffe. Saudi-Arabien, das mit Israel keine diplomatischen Beziehungen unterhält, teilte mit, es würde jegliche Angriffe auf Zivilist:innen ablehnen.
Deutscher Bundestag erinnert an queere NS-Opfer.
Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die Konzentrationslager von Auschwitz. Mehr als eine Million Menschen hatten die Nazis dort ermordet. Seit 1996 erinnert das deutsche Parlament, der Bundestag, an diesem 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus. Nach und nach hat das Parlament die einzelnen Opfergruppen in den Blick genommen.
Bis 2023 aber hat es gedauert, dass die Menschen im Mittelpunkt stehen, die wegen ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität verfolgt wurden. Rund 50’000 Männer sind deswegen verurteilt worden. Auch lesbische Frauen kamen in Haft, oft als “Asoziale” gebrandmarkt. Lange mussten Historikerinnen und Aktivisten um diese Gedenkstunde kämpfen. so lange, dass es heute keine Überlebenden aus dieser Gruppe gibt, die im Bundestag persönlich vom Leben und Überleben des Naziterrors erzählen können.
Stellvertretend für die queeren Opfer sprachen die queeren Schauspieler:innen Maren Kroymann und Jannik Schümann über die Opfer Karl Gorath und Mary Pünjer.
Gorath war 22 Jahre alt, als ihn die Nazis 1934 zum ersten Mal auf der Grundlage des berüchtigten Paragrafen 175 wegen seiner Homosexualität verurteilten. Es folgten weitere Haftstrafen, Zuchthaus, die Deportation nach Auschwitz. Karl Gorath überlebte das Konzentrationslager, nur um 1947 erneut vor Gericht zu stehen. Goraths einziges Vergehen: Er liebt Männer. Fünf weitere Jahre sitzt er ein, die Zeit im Gefängnis wird ihm von der Rente abgezogen. Später kämpft er vor Gericht vergeblich dagegen, er stribt 2003, verarmt.
Stellvertretend für lesbische Opfer sprach Maren Kroymann über die Jüdin Mary Pünjer, die unter dem Vorwand der “Asozialität” verhaftet wurde. Sie wurde ermordet, ein KZ-Arzt begründete Menschenexperimente an ihr damit, dass sie eine “kesse, sehr aktive Lesbierin” sei.
Der Paragraf 175, der Homosexualität strafbar machte, wurde erst 1994 aufgehoben, in der DDR 1968. Sogar erst 2017 machte der Bundestag die Urteile aus den Jahren nach 1945 rückgängig, von denen ebenfalls Zehntausende betroffen waren. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sagte am Freitag, der demokratische Staat Deutschland hätte lange nicht die Kraft gehabt, diese Urteile zu revidieren.
Die ganze Gedenkstunde kann in der ZDF Mediathek angeschaut werden. Link
Das war’s von uns für diese Woche, vielen Dank für dein Vertrauen. Wir lesen uns nächsten Sonntag.
Redaktionsschluss: 10:15
Weekly 04/2023
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