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Zack, und schon in eine Schublade gesteckt.

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Millionen von Informationen prasseln innert kürzester Zeit auf unser Gehirn ein. Ob nützlich oder nicht, ob neu oder schon bekannt, alles wird eingeordnet und miteinander verknüpft. Diese Eigenschaft macht unser Gedächtnis aus. Doch ist es wirklich immer von Vorteil, wenn unser Hirn in Mikrosekunden entscheidet, in welcher Schublade die neue Information landet?

Grundsätzlich ist es toll. Wenn ein kleines Kind auf die heisse Herdplatte langt, speichert das Hirn die schmerzhafte neue Erfahrung unter «Aua, mach nicht noch einmal» ab. Jede Herdplatte, die das kleine Kind von nun an sieht, löst im Hirn nun den Hinweis aus, dass anfassen auch beim zweiten Mal keine gute Idee ist. Jede Erfahrung die wir machen, wird vom Gehirn verarbeitet und einsortiert. Zeit, Ort, Mitmenschen und Tätigkeiten werden miteinander verknüpft und so abgespeichert. Wenn wir unseren Vorgesetzten Abends in der Sauna angetroffen haben, wird uns diese Erinnerung wohl beim nächsten Saunabesuch wieder einfallen. Ob wir wollen oder nicht.

Diese Hirnaktivitäten sind für uns noch nachvollziehbar. Die meisten Einordnungen oder eben «Schubladisierungen» finden unbewusst und unbemerkt statt. Und: Während unserer Kindheit werden Kategorien in unserem Gehirn geschaffen, auf die wir gar keinen Einfluss nehmen können. Als wir in den Kinderbücher den Mann als Handwerker, Arzt oder Lastwagenfahrer und die Frau als Pflegehelferin, Hausfrau oder Raumpflegerin kennengelernt haben, wurde dies zum Grundstock unserer Kategorien «Berufe für Männer» und «Berufe für Frauen». Von den Eltern, durch Medien und in der Schule werden wir darauf geprägt, was gut und was gefährlich ist.

Schubladendenken hat zwei Ebenen. Die eine Ebene, der Mechanismus, ist vorgegeben. Wie gut er funktioniert hängt unter anderem ab vom Alter und wahrscheinlich von der Plastizität des Gehirns. Die zweite Ebene betrifft konkrete Inhalte, die das Gehirn in Kategorien aufteilt. Diese Inhalte verändern sich mit dem Alter und der individuellen Lebenssituation – und sie werden erlernt!

Das bedeutet, wir müssen unserem Hirn über die Schulter schauen und ab und zu eingreifen. Wir können uns nicht darauf einlassen, dass die eben kennengelernte Person wirklich in die Kategorie passt, in die sie unser Gedächtnisorgan schubladisiert hat.

Dies führt im Alltag zu teilweise komischen Situationen. So führte eine Aussage des Afd-Vizepräsidenten Alexander Gauland in Deutschland Mitte 2016 für einen Shitstorm. Er sagte den Journalisten der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» ins Mikrofon: «Die Leute finden Jérôme Boateng als Fussballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.» Abgesehen der politischen Dimension dieser Aussage – ganz klar, sie war rassistisch – ist eine andere Frage von Bedeutung: Was ging eigentlich bei dem denkwürdigen Interview in Gaulands Gehirn vor?

Nüchtern betrachtet hat er zunächst einmal undifferenziert Kategorien gebildet. Im Falle des AfD-Vizes sind dunkelhäutige Menschen unbeliebt – so Professor Boris Suchan, Leiter der Arbeitsgruppe „Klinische Neuropsychologie“ an der Ruhr-Universität Bochum im Interview mit dem Deutschlandfunk. Das ist eine von unendlich vielen Kategorisierungen, die das menschliche Gehirn ununterbrochen produziert. Die allermeisten sind verglichen mit der Boateng-Aussage harmlos.

Auf Twitter wurde kürzlich der Hashtag «#vonhier» populär. Dort erzählten Menschen mit Migrationshintergrund, wie sie mit Fragen und Kommentaren über ihre Herkunft umgehen. Denn, wir «weissen Europäer» wollen Informationen haben, um einordnen zu können. Wir sehen einen Menschen mit dunkler Hautfarbe, denken «Afrika» und wollen deshalb wissen, aus welchem Land diese Person stammt. Eine Antwort wie «Bern» oder «München» löst in unserem Gehirn und in unseren Schubladen ein mittelschweres Erdbeben aus, dessen Folgen nicht einmal Marie Kondo passabel aufräumen kann. Aber natürlich hatte die Person recht. Wenn sie in Bern geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen ist und hier lebt, ist sie nun mal von hier. Eine Nachfrage wie: «Aber von wo denn wirklich?» ist einfach nur beschämend.

In der Schweizer Illustrierten echauffierte sich Gülsha Adilji, Bloggerin und Autorin, letztens über genau diese Frage.  Denn die Information, dass ihre Mutter Türkin ist, aber aus dem Kosovo kommt, ihr Vater Albaner, aber aus Serbien kommt, bringe niemanden etwas. Meistens sei es auch nur eine Verlegenheitsfrage, weil einem beim Kennenlernen nichts Anderes einfalle. «Aber man könnte sich schon es biz Mühe geben.»

Und dieses Wissen verfälscht unsere Wahrnehmung mehr, als sie uns hilft. Damit unser Gehirn die Information ablegen kann, verknüpft es das neue mit vorhergegangem Wissen. Oder wie es Gülsha schreibt: «Unser Hirn fischt also nach allen Dingen, die es zu Kosovo, Türkei oder Albanien kennt, was für mein Gegenüber wohl kaum Assoziationen hervorruft von frisch gebackenem Börek, 78 Cousins zum draussen spielen oder Durchzug als Todesursache No1. Was fällt denn Ihnen als Erstes ein bei Kosovo? Blitzen Schlagzeilen von Rasern auf, oder der Krieg in den 90ern, Schlägereien in Schlieren oder BMWs?»

Es sei viel einfacher, zuerst nach Gemeinsamkeiten zu fragen, statt nach Unterschieden. Die Frage nach der Farbe des Sofas oder der Lieblingsserie auf Netflix enthalte wesentlich mehr verarbeitbare Informationen als die nach der Herkunft.

Wir dürfen uns also nicht immer auf die Einordnungen stützen, die unser Gehirn macht. Klar, wenn wir mitten in der Nacht alleine nach Hause laufen und unser Hirn beim entgegenkommenden Mann findet, “Gefahr, pass auf!”, sollten wir uns vielleicht darauf verlassen und aus dem Weg gehen. Aber in Situationen wo wir keine Gefahr befürchten zu haben, sollten wir häufiger bestehende Schubladen aufreissen und umkrempeln!


Mit Informationen von:
deutschlandfunk.de
schweizer-illustrierte.ch

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