Natur, und wir? Ein Besuch im Stapferhaus

Bild: rethink

Einmal barfuss ein Museum entdecken? Dabei die Natur aus einer neuen Sichtweise erleben und über die ganz grossen Fragen sinnieren? Das bietet aktuell die Ausstellung “Natur, und wir?” in Lenzburg.

Das Stapferhaus, seit 2018 in einem massiven, schwarzen, kantigen Holz-Bau direkt beim Bahnhof Lenzburg zuhause, stellt nicht nur aus, sondern wird zur Ausstellung. 

Bei “Natur, und wir?” treten die dunklen Räume in den Hintergrund, das Gebäude verschmilzt mit der eigentlichen Ausstellung. Beim Vorplatz wird beispielsweise erklärt, aus was die Erde in den Blumentöpfen besteht und es wird beschrieben, was für einen Einfluss ein asphaltierter Platz auf die Umgebungstemperatur haben kann. Die Lampenschirmen im eigenen Café bestehen aus einem Pilzmaterial und selbst bei der Türe zum Putzraum hängt ein kleines Schild: 100 Liter Putzmittel wurden demnach für 12 Monate Ausstellung bestellt. 

Beginnen tut der Rundgang unerwartet. Erster Stopp ist die Garderobe. Genauer gesagt die Schuhgarderobe. Der Rundgang soll wenn möglich Barfuss erlebt werden. Nur so können die Besucher:innen die verschiedenen (Natur-)Böden entdecken. 

Die Ausstellung ist grob in drei Teile zu unterteilen. Zu Beginn wird die Forschung und der Umgang mit der Natur in der Vergangenheit thematisiert. Es geht um die Ausrottung des Wolfes, die Jagd auf Nashörner und die Natur in der Philosophie. Von Darwin über Nietzsche zu Aristoteles. Witziges Detail: Die Vitrinen in diesem Bereich wurden aus zweiter Hand in der ganzen Schweiz zusammen gekauft. Ein Stapferhaus Mitarbeiter hat dabei mit seinem Subaru Forester 2985 Kilometer zurückgelegt. 

Secondhand-Schaukästen
Bild: Stapferhaus/Anita Affentranger

Weiter geht es in die Gegenwart. Ab hier bekommen die Besucher:innen einen eigenen “Kompass” mit integriertem Chip mit auf den Weg. Mit diesem kann man bei Grundsatzfragen, beispielsweise ob der Mensch die Natur retten sollte, oder er sich wichtiger nimmt als er ist, seine eigene Meinung festhalten.

In mehreren Räumen gilt es verschiedene Aspekte der Natur und den Umgang der Menschen mit ihr zu erkunden. Etwa was es bedeutet, wenn ein ganzer Fluss wie der Rio Atrato in Kolumbien die gleichen Rechte wie Menschen erhält. Oder es gilt die Natur (und Stadt) aus Sicht eines Fuchses zu entdecken - und erschnüffeln. Inklusive Begehung auf allen Vieren. Die Besucher:innen entdecken, wie sich eine Pflanze anhört, wenn sie auf menschliche Berührung reagiert, erfahren wie Pilze das Bauwesen revolutionieren könnten oder lernen ganz einfach das eigene Mikrobiom kennen, also die Bakterien, Viren, Pilzen und Kleinstlebewesen, die wir ständig mit uns herumschleppen – und ohne die wir gar nicht leben könnten. Im Zentrum der Ausstellung stehen die Fakten: Grafiken zum Artensterben in der Schweiz, wie viel Kunststoff an einem Tag aus der Limmat gefischt wurde oder welchen Anteil die Schweiz am globalen Rohstoffhandel hat (es sind 42 %).

Von links nach rechts: Goldminen in Australien, Gewächshäuser in Spanien und Regenwald-Abholzung in Brasilien

Bild: Stapferhaus/Anita Affentranger

Als letzte Etappe geht es in den Bereich “Was tun?”. Hier diskutieren vier Personen miteinander. Sie stellen  “Stereotypen” der Gesellschaft dar. Die “Unbekümmerten”, die finden, eine Person alleine könne sowieso nichts ausrichten und deshalb ihr Steak ohne schlechtes Gewissen auf den Grill werfen. Die “ganzheitlich Denkenden”, die das Problem grundlegend im System sehen, die “technikfreudigen”, die die Klimakrise nur als Grund für mehr Forschung und Innovation wahrnehmen. Und zum Schluss die “Informierten”: Eine Gruppe, die sich nur auf Fakten verlässt. Immer wieder fragen die vier auf der Leinwand das Publikum, was dieses denkt. Etwa ob die Klimakrise die grösste Herausforderung aller Zeiten darstellt, oder ob wir andere, ebenfalls wichtige Dinge, vernachlässigen.

Bild: Stapferhaus/Anita Affentranger

Beendet wird die Ausstellung mit der Frage “Und wo stehst du?”. Hier gibt man seinen Kompass ab und erhält, basierend auf den eigenen Antworten in der Ausstellung, die Auswertung, welche “Stereotypen” der Gesellschaft zu einem passen. 

“Komplexe Themen ohne politischen Mahnfinger sinnlich erlebbar machen”, will die künstlerische Leiterin Sibylle Lichtensteiger mit der Ausstellung “Natur, und wir?” erreichen. Das ist dem Team im Stapferhaus gelungen. In einem Gebäude, das innen immer wieder viel grösser wirkt als es von aussen scheint, mit einem Ausstellungskonzept, das jeden Gebäudebereich umfasst und schlussendlich auch mit einer Prise Humor. In einem Raum besteht der Boden aus Kieselsteinen. Ein Schild erklärt dazu: “Diese Steine kommen aus Italien. Wir haben sie in einem Schweizer Baumarkt gekauft. Ein 25kg Sack kostet CHF19.95.”

 

“Natur, und wir?” im Stapferhaus Lenzburg, direkt beim Bahnhof. Jeweils von Dienstag - Sonntag geöffnet, das gesamte Haus ist barrierefrei. 

Preise und Öffnungszeiten: stapferhaus.ch


Die Ausstellung dauert noch bis am 29. Oktober 2023.


© rethink-blog 2022

Oli Wingeier

Oli, findet alles Neue spannend und erstmal gut, ausser die neuen Rechten. Duscht jeden Morgen zu lange, besitzt mehr als tausend Notizbücher und zu viele Gedanken (oder umgekehrt).
Für rethink wühlt er sich jede Woche durch etliche Nachrichten und kreiert dann daraus eine Zusammenfassung der wichtigsten News. Zu lesen und hören als “Weekly”

https://instagram.com/oli.wingeier
Zurück
Zurück

2023: Das ändert sich

Weiter
Weiter

Weekly, KW42